Offermann-Hergarten Prize
Anna-Maria Offermann-Hergarten, a business woman from Cologne, who operated among other things, a leather shop close to Cologne Cathedral that is still in business, decreed in her will that a foundation to award special achievement in the Humanities at the Faculty of Arts and Humanities of the University of Cologne be set up from her estate.
At the beginning of 1991, Anna-Maria Offermann-Hergarten passed and her notary Dr. Ralf Tönnies began to set up the foundation. In 1994, the foundation was recognized and there was the first announcement.
Anne Offermann-Hergarten named Rolf Reucher from Kreissparkasse Bank Cologne as well as Alfred Fuhrmann as members of the Foundation committee. Additionally, as chairman of the Committee for the Advancement of Junior Academics of the Faculty of Arts and Humanities, Prof. Dr. Ralph Jessen has recently been nominated by the Dean's Office. The Foundation committee decides on the awarding of the prize. The Committee for the Advancement of Junior Academics of the Faculty of Arts and Humanities reviews and recommends applications.
The objective of the Foundation is to promote junior academics by awarding them for their published work with a monetary prize which is intended as both a reward and a basis to continue their work.
The Committee of Offermann-Hergarten Foundation awards the the prize within the framework of a ceremony.
Preisträger*innen der Offermann-Hergarten-Stiftung
Preisträger*innen 2024
Aviad Albert
A Model of Sonority Based on Pitch Intelligiblity, Berlin: Language Science Press
Die Arbeit ist an der Schnittstelle von empirischer Phonetik und theoretischer Phonologie angesiedelt und behandelt das Phänomen der Sonorität, also der Klangfülle im allgemeinen und der Stimmhaftigkeit bei Konsonanten im besonderen sowie die Frage der Hierarchie solcher Klangqualitäten bei der Silbenbildung. Für dieses Forschungsfeld hat Herr Albert ein neues Modell ausgearbeitet, das die damit zusammenhängende Prozesse zu systematisieren erlaubt – das Nucleus Attraction Principle (NAP), das auf der Wahrnehmung der Grundfrequenz einer Silbe, ihrem pitch beruht und die Ausbildung wiederkehrender phonetischer Muster zu erklären erlaubt (Perceptual Regimes of Repetitive Sounds, PRiORS). Dass sein Modell phonetische Phänomene besser vorhersagen kann als bisherige Beschreibungen, hat Herr Albert an zwei experimentellen Wahrnehmungsstudien zum Deutschen und zum Hebräischen nachgewiesen. Und er hat überdies ein open source-Tool zur Analyse der in diesem Modell abgebildeten Phänomene erarbeitet, das bereits von anderen Forscherinnen und Forschern verwendet wird (Prosodic Analysis with Periodic Energy, ProPer). Seine Dissertation verbindet damit – und das ist selten – theoretische Innovation mit empirischer Grundlegung und praktischer Anwendbarkeit.
Nicolai Busch
Das „politische Rechte“ der Gegenwartsliteratur (1989-2022). Mit Studien zu Christian Kracht, Simon Strauß und Uwe Tellkamp, Berlin/Boston: de Gruyter
Die Arbeit untersucht eine Tendenz der jüngeren Gegenwartsliteratur, die ein Begleitphänomen zu den derzeit beobachtbaren Verschiebungen im politischen Diskurs darstellt: Allianzen von Autoren und Verlagen mit den sogenannten „neuen Rechten“. Dabei beobachtet Busch die Kategorie „rechts“ als Produkt gesellschaftlicher Positions- und Deutungskämpfe um die Wahrnehmung von Wirklichkeit, und er zeigt, auf welche Weise der Literaturbetrieb an diesen Kämpfen beteiligt ist: Seine Arbeit präsentiert zum einen einen historischen Überblick über die Art und Weise, wie literarische Texte die Vorstellung von dem, was man als „rechts“ bezeichnet, mitgeprägt haben, und zum anderen drei jüngere Kontroversen um Autoren, anhand derer die Politik der neuen Rechten auch als Literaturpolitik kenntlich wird. So kann Busch zeigen, dass Christian Kracht lange vor seinem Durchbruch gegen linksliberale Diskurse polemisierte und für seinen Romanerstling Faserland von 1995 in der neurechten Presse gefeiert wurde. Vergleichbares lässt sich für die Gemeinschaftsutopien von Botho Strauß‘ Sohn Simon sowie Uwe Tellkamp, von dessen zunehmend politischen Äußerungen sich der Suhrkamp-Verlag vor einigen Jahren distanzierte. Auf diese Weise zeichnet Nicolai Busch ein deutliches Bild, auf welche Weise der politisch rechte Diskurs der Gegenwart immer auch von Literatur bzw. in Bezug auf sie formuliert und umrissen wird.
Eva-Maria Cersovsky
Geschlechterverhältnisse in der Krankenfürsorge. Straßburg im 15. und 16. Jahrhundert, Ostfildern: Thorbecke
Die Arbeit aus der Frühneuzeitlichen Geschichte untersucht Aufgabenbereiche und Handlungsmöglichkeiten von Männern und Frauen in der städtischen Krankenfürsorge der Stadt Straßburg zwischen 1400 und 1550, so z.B. verschiedene Krankenhäusern und Armeneinrichtungen. Der besondere Fokus liegt dabei auf der Frage, welche Rolle Geschlechterunterschiede bei der Zuteilung und Durchführung dieser Aufgaben zukam, und sie beobachtet dabei im Unterschied zur bisherigen Forschung wesentliche Spielräume der Aufgabenverteilung und Ämterzuweisung gegenüber den erwartbaren Geschlechterhierarchien: So herrscht im Fall von Ehepaaren, die in derselben Einrichtung arbeiten, oft Gleichberechtigung und Frauen konnten zwar keine offiziellen Führungspositionen übernehmen, aber dennoch an der Aufsicht der Fürsorgeinstitutionen teilnehmen. Und auch der Einsatz von Männern stand oft in Zusammenhang mit ihrer familiären Situation. Erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts setzt sich dann die geschlechterspezifische Aufteilung in Weisungsbefugnis und Gehorsamspflicht durch. Davor, so die These von Frau Cersovsky, ist Geschlecht aber nur ein Kriterium unter vielen bei der Organisation der Fürsorgearbeit und es gab keine ausschließlich weiblichen oder männlichen Tätigkeitsfelder. Dieses innovative Ergebnis ist auf eine große Menge bislang unerschlossenen Archivmaterials gestützt, so dass die Dissertation von Eva-Maria Cersovsky nicht nur eine gendertheoretisch pointierte These entwickelt, sondern auch historiographische Grundlangenforschung leistet.
Tessa Gengnagel
Digital Scholarly Editions Beyond Text. Modelling Art, Film, And Everything in Between, Dresden/Heidelberg: arthistoricum.net
Die Arbeit aus dem Bereich der Digital Humanities fragt nach der Rolle der Digitalisierung bei der Edition nicht-textueller Artefakte – vor allem nach den Möglichkeiten der visuellen Darstellung materieller und räumlicher Elemente. Frau Gengnagel präsentiert dabei sowohl eine historische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Editionsphilologie als auch die Entwicklung neuer Methodiken gestützt auf strukturalistische und kybernetisch Modelle. Ihre Studie macht dabei auf schlagende Weise den interdisziplinären Wert der Grundlagenforschung und Modellbildung in den Digital Humanities deutlich: So diskutiert sie zum einen den Einsatz von Bildprogrammen für mittelalterliche Handschriften und also für ein Forschungsgebiet an der Schnittstelle Mediävistik/Kunstgeschichte. Zum anderen wendet sie ihr Modell auf die editorische Aufarbeitung des frühen Stummfilms an, also einem medienwissenschaftlichen Gegenstand. Die Dissertationsschrift weist so einen extrem breiten historischen und disziplinären Fokus auf, den Frau Gengnagel zugleich versucht, in einem übergreifenden Superstruktur-Modell zu bündeln und für künftige Editionsvorhaben anwendbar zu halten. Auf diese Weise ist ihre Arbeit ein wichtiger Beitrag zur zunehmenden Digitalisierung der kulturellen Gedächtnisbildung und damit auch ein Beitrag zu einer zentralen methodischen Grundlegung der Zukunft fast aller Fächer an unserer Fakultät.
Adrian Meyer
Merkantiles Erzählen – Von Kauf und Verkauf in mittelhochdeutscher Literatur, Berlin/Boston: de Gruyter
Die Arbeit aus dem Bereich der älteren deutschen leistet einen Beitrag zur Kulturgeschichte der Ökonomie: Herr Meyer führt den Nachweis, wie merkantile Denk- und Handlungsmuster dieser Zeit von literarischen Texten mitkonstruiert werden – das betrifft z.B. Institutionen wie den Markt, Codes wie den Warenwert und Praktiken wie den Tausch, aber auch Begriffsgeschichten von Kauf, Wert, Gewinn, Schatz, Lohn etc. Theoretisch fundiert ist diese Untersuchung durch kulturwissenschaftliche Konzepte wie z.B. die Theorie des Gabentauschs sowie vor allem durch den Ansatz einer der économie des conventions, der Wirtschaftsgeschichte nicht mit Blick auf abstrakte Theorien, sondern auf situative und historisch kontextualisierte Praktiken beschreibt. Zugleich leistet die Arbeit aber auch eine textnahe und differenzierte Relektüre mittelalterlicher Texte auf ihre Darstellung wirtschaftlicher Zusammenhänge hin: Dabei kommen erstens ökonomische Metaphern in den Blick, zweitens die zentrale Funktion des Entwurfs narrativer Zusammenhänge für das Martkgeschehen und drittens der Markt als Bühne für die Verhandlung sozialer Ordnung. Auf diese Weise hat Herr Meyer eine interdisziplinäre Grundlagenstudie vorgelegt, die zeigt, dass Wirtschaft nicht nur aus zweckrationaler Gewinnmaximierung besteht, sondern immer auch eine kulturell eingebettete Praxis ist.
Tabea Thies
Tongue Body Kinematics in Parkinson’s Disease: Effects of Levodopa and Deep Brain Stimulation. Berlin: Peter Lang
Frau Thies hat eine Arbeit auf der Schnittstelle zwischen Phonetik und Neurologie vorgelegt, und zwar eine vergleichende Untersuchung der Sprechproduktion von Parkinson-Patienten bei Einsatz von Medikamenten bzw. Hirnschrittmachern. Sie schließt damit eine Forschungslücke, da diese Effekte bislang nur mit Blick auf die sonstige Motorik erforscht wurden, nicht aber auf die Sprechwerkzeuge: Basierend auf einer Langzeitstudie mit dreizehn Patient:innen führt die Arbeit den experimenteller Nachweis eines signifikanten Unterschieds von Sprechaufwand und Artikulationsenergie bei Levodopa vs. Deep Brain Stimulation. Für diese bahnbrechende Untersuchung hat Frau Thies wegen der unmittelbareren therapeutische Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse bereits den Innovationspreis der Parkinson-Stiftung erhalten. Als Dissertation an der Philosophischen Fakultät ist aber zugleich der interdisziplinäre Brückenschlag in die Phonetik wichtig, hier vor allem mit Blick auf die elektromagnetische Aufzeichnung von Bewegungsabläufen der Sprechwerkzeuge sowie eine Perzeptionsstudie, die die Verständlichkeit der produzierten Laute bewertet.
Preisträger*innen 2023
Dr.'in Nina Eckhoff-Heindl
Comics begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories (Kunstgeschichte)
In Comics Begreifen stellt die Autorin eindrucksvoll die Vielschichtigkeit der Rezeption von und Interaktion mit Comicerzählungen heraus. Als Referenzpunkt für die Untersuchung von Visualität, Materialität und Handhabung im Zusammenspiel zwischen Comic und lesend Betrachtenden dient Chris Wares Comic-Konglomerat Building Stories. Dr. Eckhoff-Heindl gelingt es, ein breites Spektrum an wissenschaftlichen Diskursen zu integrieren und eine gewinnbringende Synthese zahlreicher theoretischer Konzepte zu präsentieren: Der Comic wird als visuell-taktiles Medium gefasst. Diese sorgfältige Berücksichtigung von Kognition, Leiblichkeit und Affekt erlaubt es Dr. Eckhoff-Heindl, die Wirkmächtigkeit des Comics im Zusammenspiel mit lesenden Betrachtenden auf vielschichtige Weise zu beleuchten. Ein solcher Ansatz ist sowohl innovativ als auch notwendig, um die Komplexität des Rezeptionsprozesses vollumfänglich zu erfassen.
Ebenfalls hervorzuheben ist die Aktualisierung der verwendeten Ansätze durch Erkenntnisse der feministischen Standpunkttheorie. Die Autorin versteht es, reflektiert eine geschlechtsspezifische Perspektive in die Analyse zu integrieren, was zu einer erweiterten und differenzierteren Betrachtung im Rahmen der Fallanalyse führt.
Dr.'in Katharina Günther
On the Trail of Francis Bacon — In the Mirror of Photography (Kunstgeschichte)
Die Dissertation von Katharina Günther befasst sich mit dem künstlerischen Prozess des britischen Malers Francis Bacon (1909-1992). Sie geht besonders auf die Frage ein, welche Rolle Fotografien für Bacon spielten. In ausgiebigen Archivstudien sowohl des Nachlasses von Bacon und in diversen Bibliotheken hat sie Fotografien bzw. gedruckte Reproduktionen von Abbildungen unterschiedlichster Art auf ihren Entstehungskontext und das Publikationsdatum untersucht, um dann Verbindungen zum Werk von Bacon herzustellen. Günther identifiziert Material, das sich in seinem Studio befand, als Vorlagen für Gemälde und diskutiert die Übertragungen Bacons im Hinblick auf Raumstruktur, Motivwahl und Farbstruktur. So kann die Verfasserin in einer peniblen Inventarisierung und Katalogisierung der Fotografien nachweisen, dass 369 von 584 bekannten Gemälden mit fotografischen Abbildungen verknüpft sind. Dabei stellt sie heraus, dass die Fotografien offenbar Skizzen in Bacons Arbeitsprozess ersetzten. Das hier behandelte Verhältnis von Malerei und Fotografie, die Debatte um den möglichen künstlerischen Charakter von Fotografie sowie die akribische Rekonstruktion des künstlerischen Prozesses bei Francis Bacon sind auch für ein breiteres Publikum interessant und werden in diesem Sinne auch stilistisch elegant und gut nachvollziehbar präsentiert.
Dr. Niklas Hünseler
Demokratie und Scharia. Vorstellungen politischer Herrschaft der Da'wa Salafiyya und Ägyptischen Muslimbruderschaft (Islamwissenschaften)
Inspiriert durch den arabischen Frühling und seiner muslimischen Akteure untersucht die Dissertation von Herr Hünseler Frage, ob der politsche Islam sich als Grundlage einer nicht-westlichen und nicht-säkularen Demokratie im arabischen Raum eignet. Im Zentrum steht dabei die Untersuchung des Demokratieverständnisses dreier wichtiger politischer Gruppierungen in Ägypten: der Dawa Salafiyya, der Ägyptischen Muslimbruderschaft und der Wasaṭ-Partei. Die Arbeit zeichnet sich nicht nur durch die Zusammenstellung einer enormen Menge schriftlicher Dokumente dieser Gruppierungen aus, sondern auch durch die Bemühungen Niklas Hünselers, parteieigene Publikationen zu berücksichtigen und Interviews mit verschiedenen Funktionsträgern durchzuführen. Dies ermöglicht eine umfassende Analyse, die die Wechselwirkungen zwischen Demokratie und Islamismus in Ägypten untersucht und die Frage aufwirft, ob diese beiden Konzepte miteinander in Einklang stehen oder inwieweit sie kompatibel sind. Das Ergebnis ist eine beeindruckende wissenschaftliche Leistung, die ein politisch vieldiskutiertes Thema souverän und kenntnisreich bearbeitet und das Potential hat, zu einem Standardwerk zum Thema politischer Islam und Demokratie zu werden – nicht zuletzt im Lichte der aktuellen politischen Lage.
Dr.'in Livia Kleinwächter
Poetiken des Notierens. Epistemologie und Ästhetik einer Schreibszene bei Elias Canetti, Ludwig Hohl und Rainald Goetz (Germanistik)
Die Dissertationsschrift von Livia Kleinwächter ist einer schriftstellerischen Praxis gewidmet, derer sich alle Autorinnen und Autoren bedienen, die aber meist als bloße Randerscheinung oder Vorbereitung ihrer Werke abgetan wird: das Notieren bzw. Notizen machen. Frau Kleinwächter zeigt aber, daß diese Praxis der entscheidende Umschlagpunkt von der Wahrnehmung (englisch to note) zum Schreibakt ist. Seine zentrale Rolle für die moderne Literatur weist sie nach, indem sie in Fallstudien zu Elias Canetti, Ludwig Hohl und Rainald Goetz nachweist, auf welche Weise Texte das Notieren als ihre eigene Möglichkeitsbedingung inszenieren. Das Notieren ist also eine Figur der textuellen Selbstreflexion. Die besondere Stärke der Dissertationsschrift von Livia Kleinwächter liegt dabei, neben ihren zahlreichen innovativen Lektüren und theoretischen Kontextualisierungen, in der konsequenten Ausrichtung der Argumentatioin auf die Ebene der Poetologie und ästhetische Form der Texte – eine Ebene, die medienarchäologischen bzw. materiell-praxeologischen Untersuchungen mitunter in den Hintergrund tritt. Sie zeigt, daß das Spezifische der literarischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts einer Art teilnehmenden Beobachtung der eigenen Praxis aufzufinden ist. Damit leistet die Untersuchung einen substantiellen Beitrag zur Erforschung materieller Praktiken für die literarische Ästhetik des 20. Jahrhunderts. Sie argumentiert auf höchstem theoretischen Niveau, dabei aber stets eigenständig und textnah und sie ist nicht zuletzt selbst in einem im höchsten Maße eleganten Stil abgefaßt.
Dr.'in Kathrin Schuchmann
Entleerte Räume. Zur literarischen Ästhetik der Absenz bei Thomas Bernhard und Christof Ransmayr (Germanistik)
Das Thema der Dissertation ist der literarische Umgang mit Abwesenheit, Lücken und physischer Leere in ausgewählten Romanen von Thomas Bernhard und Christoph Ransmayr. Die Faszination des Themas besteht darin, dass Abwesenheit eine Kategorie ist, die zwangsläufig unbestimmt ist, aber sprachlich dennoch beschrieben werden und zum Medium ästhetischer Formbildungsprozesse werden kann. In diesem Sinne zeigt Kathrin Schuchmann, auf welche Weise räumliche Leere in der Literatur als Projektionsfläche für Möglichkeiten genutzt werden und dadurch bestimmt werden kann. Hierzu arbeitet die Verfasserin die Geschichte des Raumwissens auf und behandelt anhand der beiden literarischen Fallstudien zu Thomas Bernhard und Christoph Ransmayr insbesondere die Medialität der Absenz in ihrem besonderen Bezug zu Zeichenhaftigkeit und Schriftlichkeit zur Sprache. Der zweite Teil widmet sich dann literarischen Fallstudien, die drei Romane Ransmayrs und sowie Bernhards Das Kalkwerk in den Mittelpunkt rücken. Die Arbeit beeindruckt durch ihre umfassende Thematik, die ausführliche theoretische Aufarbeitung der zugrundeliegenden Begriffe und die sorgfältigen Lektüren literarischer Texte. In den Romananalysen gelingt es der Autorin mit viel Fingerspitzengefühl Dinge sichtbar zu machen, die in den Romanen selbst unbestimmt geblieben sind.
Preisträger*innen 2022
Dr.'in Maria Hirt
Die Festdarstellungen in Ovids Fasti
Frau Hirt hat eine Untersuchung der Festdarstellungen in Ovids elegischer Kalenderdichtung Fasti vorgelegt – das aber nicht, wie bisher üblich, mit Blick auf die dokumentarische Funktion dieses Textes für unser Verständnis der Riten und Feiertage im römischen Kalender, sondern indem sie ihn ausdrücklich als literarischen würdigt. D.h., daß Ovid, auch dann, wenn er eine kulturgeschichtliche Darstellung geschrieben hat (die für uns bis heute interessant ist, weil er darin eine ausführliche etymologische Rekonstruktion der Herkunft der ja bis heute in Verwendung befindlichen lateinischen Monatsnamen bietet), stets als Dichter geschrieben hat, was Frau Hirt zum einen anhand der zahlreichen Anspielungen und intertextuellen Referenzen nachweist, und zum anderen durch eine detaillierte Analyse der verschiedenen Erzähltechniken und Sprechakte, mittels derer Ovid sein Panorama der Festtage und Riten entwirft – ein Panorama, das die Arbeit von Frau Hirt am Ende in eine systematische Klassifikation zu ordnen versteht. Auf diese Weise gelingt es Frau Hirt, einem seit langem bekannten, aber mitunter etwas randständig behandelten Text der lateinischen Literatur durch eine methodisch innovative Perspektive ganz neu zu erschließen, die Frau Hirt sowohl aus narratologischer als auch aus sprechakttheoretischer Perspektive betrachtet. Auf diese Weise gelangt der von allen Gutachten als innovativ hervorgehobene Herangehensweise zu einer ganz neuen Perspektive auf einen alten Text, und diese Leistung hat die Jury sehr beeindruckt.
PD Dr. Thomas Jeschke
Die Lehre von den Seelenpotenzen bei Durandus von Saint-Pourcain. Eine philosophische Psychologie im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter
Die einzige in diesem Jahr ausgezeichnete Habilitationsschrift ist ein Beitrag zur, wenn man so will, philosophischen Vorgeschichte der Psychologie im Spätmittelalter, nämlich zur Diskussion über die ‚Potenzen‘ der Seele bei dem französischen Dominikaners Durandus. Noch bevor Descartes seine folgenreiche Trennung von Materie und Geist vorgenommen hat, ging Durandus in seinem Sentenzenbuch der Frage nach, ob die Seele trotz ihrer unterschiedlichen Funktionen als Einheit aufzufassen sei, oder ob sie in ihre körperlichen und rationalen ‚Potenzen’ zerfalle. Herrn Jeschkes Darstellung der zeitgenössischen Debatten zu dieser Frage bei Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham bieten ein auch für den fachfremden Leser überaus plastisches Bild. Die zentrale und weit über das Interesse der Durandus-Forschung hinausgehende These der Arbeit ist dabei, daß Durandus‘ Modell einer binnendifferenzierten Seele exemplarisch für einen Neuformierung der Seelenlehre des Hochmittelalters zu demjenigen des Spätmittelalters anzusehen sei. Auf diese Weise ist Thomas Jeschkes Habilitationsschrift nicht nur ein Beitrag zur Philosophiegeschichte, sondern auch von grundlegendem wissenschaftshistorischem und wissenschaftstheoretischem Interesse: Sie erlaubt es nachzuvollziehen, wie es innerhalb philosophischer Debatten zu grundsätzlichen Paradigmenwechseln kommt, anhand derer auch alte Theorien in ihrer spezifischen Modernität erkennbar werden. Für diese auch in einem fachübergreifenden Sinne wichtige Leistung erkennt die Jury Herrn Jeschke den Offermann Hergarten Preis zu.
Dr. Diego Romero Heredero
Marcado diferencial de objeto y semántica verbal en español
Diese Dissertationsschrift stellte eine besondere Herausforderung für die Kommission dar: Denn sie behandelt nicht nur eine spezifische grammatikalische Struktur im Spanischen, sondern ist auch auf spanisch abgefasst. Das hat uns dazu bewogen, ein Außengutachten der Kollegin Prof.‘in Grutschus von der Universität Bonn einzuholen – das aber den hervorragenden Eindruck der Dissertationsgutachten bestätigt hat: Herr Romero Heredero hat die vieldiskutierte Forschung zur differenziellen Objektmarkierung im Spanischen durch eine Verschiebung der Perspektive von Nominalstrukturen auf die Verbsemantik entscheidend vorangebracht. Unter differenzieller Objektmarkierung versteht man das Phänomen, daß manche Akkusativobjekte morphologisch markiert werden, während andere diese Markierung nicht erhalten – und die sprachwissenschaftliche Frage ist, wie sich dieser Unterschied systematisch begründen läßt. Diese Frage hat Herr Romero Heredero beantwortet, indem er auf die Verbindung des Phänomens mit Verben nachgewiesen hat, die auf abgeschlossenen Handlungen oder die affektive Involviertheit der Beteiligten verweisen – insbesondere der Aspekt der Affiziertheit steht dabei im Kontext des Themas des aktuellen sprachwissenschaftlichen SFBs an unserer Fakultät, Prominence in Language. Daraus resultiert auch, daß der Außengutachter von der Universität Madrid, der mittlerweile leider verstorbene Kollege Manuel Leonetti, in der Studie von Herrn Romero Heredero auch einen erheblichen Fortschritt für die Linguistik in Spanien gesehen hat. Diese bemerkenswerte Leistung erachtet die Jury für preiswürdig.
Dr. Hauke-Peter Vehrs
Pokot Pastoralism. Environmental Change and Socio-Economic Transformation in North-West Kenya
Die umweltethnologische Arbeit ist bietet eine neue Perspektive auf den Umweltwandel in den ostafrikanischen Trockengebieten, und die Wahrnehmung dieses Wandels durch die Pokot-Rindernomaden. Die besondere Leistung der Untersuchung ist dabei darin zu sehen, daß die Erfahrungen, Erkenntnisse und Interpretationen der Pokot selbst in einer multi-perspektiven Darstellung der „Verbuschung“ der ursprünglichen Gras-Savanne. Die Arbeit baut mithin auf dem Wissen der Pokot auf, mit denen zusammen sich Vehrs – der nomadischen Tradition folgend – die Veränderungen der Savanne quasi "erwandert". Die Gutachter der Jury waren begeistert von der lebendigen Anschaulichkeit dieser walking method, die sich produktiv von der üblichen Methodik wissenschaftlicher Qualifikationsschriften abhebt. Die Beschreibungen sind von Tagebucheinträgen des Verfassers begleitet, die in die alltäglichen Erfahrungen eines Ethnologen einen sehr persönlichen Einblick gewähren. Dennoch ist die Arbeit keineswegs nur persönlich, sondern zeigt in erschreckender Weise die rapiden Veränderungen der Landschaft in Nordwest Kenia und die damit lebensbedrohenden und lebensverändernden Bedingungen für die ohnehin schon in Prekarität lebenden Pokot. Ökologischer Wandel und somit der Entzug der lokalen Wirtschaftsformen bedeutet immer auch Migration. Fallstudien wie die von Herrn Dr. Vehrs sollten Beachtung finden im Diskurs zur Akzeptanz von Migrant*innen weltweit und sollten auch dazu dienen, die Folgen der kolonialen Praktiken wieder und wieder in Erinnerung zu rufen. Dafür erhält Herr Vehrs, der sich derzeit wieder in Kenia aufhält, den Preis der Offermann-Hergarten-Stiftung.
Dr.'in Manuela Vida-Mannl
The Value of English Language in Global Mobility and Higher Education: An Investigation of Higher Education in Cyprus
Die Dissertationsschrift analysiert die Rolle des Englischen im Hochschulsystem von Zypern, genauer, die Gründe warum in Zypern in den letzten Jahren zunehmend englischsprachige Studiengänge eingerichtet werden. In ihren kulturpolitisch engagierten Ausführungen zeigt Frau Vida-Mannl, daß sowohl die Förderung englischsprachiger Studienangebote als auch die Motivierung ausländischer Studienbewerber:innen zum Englischerwerb im Dienste ökonomischer Interessen der Universitäten stehen, die auf den hohen sozialen Status des Englischen als auch akademische lingua franca setzen und sich dabei auf das – allzuoft trügerische – Narrativ stützen, englischsprachige Abschlüsse garantierten in der globalisierten Welt besserer Aufstiegschancen. Um diesen Nachweis zu führen, hat die Verfasserin quantitative Erhebungen und qualitative Interviews mit Studierenden an vier Universitäten auf Zypern durchgeführt, die zeigen, welche Rolle die Sprache eines Studiengangs für Aspekte der Identität und Hierarchie haben. Vor allem aber erkennt man in der Wahrnehmung von Studiumsinteressierten den Zusammenhang zwischen Englischerwerb, sozialen Aufstiegshoffnungen und globaler Mobilität. Für die Beispielanalyse wird Zypern gewählt, weil die politisch geteilte Insel am Südrand des globalen Nordens auf verschiedene Weise als „gateway“ angesehen wird und daher z.B. auch für Studierende aus Afrika attraktiv scheint. Auf diese Weise geht die Relevanz der Untersuchungsergebnisse weit über die konkrete Situation des Fallbeispiels Zypern hinaus und erlaubt einen generellen Blick auf die hochschulpolitische Strategien im Kontext der Migration nach Europa – und für diese besondere Leistungen erkennen wir der Dissertation von Frau Vida-Mannl den Offermann-Hergarten-Stiftung zu.
Preisträger*innen 2021
Dr. Dominik Balg
Leben und leben lassen. Eine Kritik intellektueller Toleranz
Toleranz ist eine populäre Tugend. Tolerant zu sein, gilt als positive, sozial erwünschte, ja notwendige Einstellung, als eine wichtige Voraussetzung für das Zusammenleben in heutigen Gesellschaften, die durch immer mehr kulturelle Vielfalt geprägt sind. In Politik, Gesellschaft und Wissenschaft ist eine tolerante Haltung gegenüber anderen Standpunkten, Positionen, Werten oder kulturellen Normen häufig – jedenfalls sehen es viele so – die Grundlage einer verständnisvollen und produktiven Kommunikation. Historisch hing der Aufstieg der „Toleranz“ mit dem ersten großen Heterogenisierungs Schub an der Schwelle zur Neuzeit zusammen: Die Reformation löste die Einheit der römischen Christenheit in Europa auf. Sollten die blutigen Konfessionskriege ein Ende finden, mussten die entstehenden Staaten einen Weg finden, mit konfessioneller Pluralität umzugehen. Das war der Ausgangspunkt der ersten „Toleranzedikte“, die die „Duldung“ konfessioneller Minderheiten verkündeten. Berühmt geworden ist etwa das Potsdamer Toleranzedikt von 1685, das die Niederlassung französischer Glaubensflüchtlinge, der Hugenotten, in Preußen gestattete.
Hier wird aber auch schon ein Pferdefuß der „Toleranz“ erkennbar: tolerare heißt „ertragen, (er)dulden“, nicht aber auch schon: akzeptieren, anerkennen, respektieren. Die gleichberechtigte Akzeptanz des Anderen ist noch nicht garantiert, wenn er lediglich „toleriert“ wird. Vermutlich ist das auch der Grund für den Karriereknick, den der „Toleranz“-Begriff in jüngster Zeit in der politischen Sprache erleiden musste. Dass die SPD im jüngsten Bundestagswahlkampf den „Respekt“ zum Leitwert erhoben hat, spiegelt eine semantische Verschiebung wider, hinter den gestiegenen Anerkennungserwartungen in einer heterogener gewordenen Welt stehen.
Dieser kleine Ausflug in Geschichte und Gegenwart des Toleranzbegriffs macht vielleicht auch dem Laien die Relevanz des Themas deutlich, dass Dominik Balg in seiner philosophischen Dissertation auf ausgezeichnete Weise behandelt hat. „Leben und leben lassen. Eine Kritik intellektueller Toleranz“ – so der Titel der Arbeit. Was Toleranz grundbegrifflich und strukturell konstituiert, ist nämlich trotz der alltagssprachlichen Popularität des Begriffs nicht einfach festzustellen. Und dieser schwierigen und wegweisenden Aufgabe widmet sich der Autor auf sehr eigenständige, gründlich argumentierende, leserfreundliche und konsistente Art und Weise. Eine tolerante Haltung im Sinne einer intellektuellen Einstellung gegenüber widerstreitenden Meinungen wird dabei einer ausführlichen Kritik unterzogen. Auch wird die Plausibilität allgemeiner Toleranzforderungen in spezifischen Domänen wie Politik, Religion oder Ethik sondiert. Mit den Konzepten von „intellektueller Aufgeschlossenheit“ sowie „Bescheidenheit“ werden zwei alternative Begriffe präsentiert und diskutiert, die den Universalitätsanspruch, der zuweilen an den Toleranzbegriff gestellt wird, besser erfüllen können. Mit dieser Begriffsanalyse tun sich gehaltvolle Möglichkeiten der Abgrenzung und des Vergleichs im Bereich nicht nur der Erkenntnistheorie, sondern auch der Sozialphilosophie oder politischen Theorie auf, weshalb die Studie diverse Diskussionen zu beflügeln in der Lage sein wird.
Wichtige Fragen, die im Zuge der Untersuchung geklärt werden, betreffen die grundsätzliche Möglichkeit und die Bedingungen, unter denen epistemische Toleranz rational oder irrational ist. Die in der praktischen Philosophie und Ethik etablierte Kategorie der Toleranz wird hierbei erkenntnistheoretisch zwischen Dogmatismus und Skeptizismus so geschärft, dass ihr Verhältnis zum Relativismus deutlich wird.
Mit seiner spannenden und originellen Studie profiliert Dominik Balg das Thema der Toleranz als neues philosophischen Forschungsfeld. Wie dieses weiterzuentwickeln wäre, diskutiert der Autor in einem Kapitel, das Zukunftsfragen für die Toleranzforschung aufwirft und die Ergebnisse anschlussfähig für unterschiedliche Debatten macht. Neben der zielführenden Argumentation und Stringenz besticht die Arbeit durch sorgfältig gewählte Beispiele, an denen sich die intellektuelle Flexibilität des Autors ebenso zeigt wie sein didaktischer Anspruch und eine willkommene sprachliche Klarheit. Diese Aspekte machen das Buch besonders lesenswert und auch deshalb wird es heute mit dem Preis der Offermann-Hergarten-Stiftung ausgezeichnet.
Dr.'in Katharina Kostopoulos
Die Vergangenheit vor Augen. Erinnerungsräume bei den attischen Rednern
Der französische Historiker Pierre Nora hat vor etlichen Jahren einen Begriff geprägt, der ein ganzes Forschungsfeld erschlossen hat: Mit dem Konzept der „Erinnerungsorte“ hat Nora die Aufmerksamkeit auf Dinge, Begriffe, Ereignisse und Symbole gelenkt, die für die Konstituierung des kollektiven Gedächtnisses und vor allem für die Entwicklung nationaler Identifikation in der Neuzeit von zentraler Bedeutung sind. Was für die Franzosen die mythische „Marianne“, die „Jungfrau von Orleans“ und die „Revolution von 1789“ sind, sind für die Deutschen „Die Reformation“, „Weimar“, „Der Volkswagen“ und jüngst „Die Friedliche Revolution“. Inzwischen gibt es etliche Studien u. Sammelbände, die „Erinnerungsorten“ in unterschiedlichen historischen Kontexten nachforschen. Auch die „Erinnerungsorte der Antike“ sind prominent untersucht und in zwei Sammelbänden, herausgegeben vom Ehepaar Hölkeskamp, publiziert worden.
Frau Kostopoulos knüpft mit ihrer althistorischen Dissertation an diese Forschungen an und entwickelt sie auf originelle Weise weiter. Während der Begriff des „Erinnerungsorts“ von Nora und denen, die sich an ihm orientierten, sehr weit und oft metaphorisch gebraucht wurde – die „Jungfrau von Orleans“ als Erinnerungsort – interessiert sich die Verfasserin in einem deutlich engeren Sinne für die Rolle von „Erinnerungsräumen“ – also konkreten historischen Schauplätzen, architektonischen Ensembles oder Denkmälern und Inschriften – in den überlieferten Texten attischer Redner im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Mit ihrer Frage nach den Verbindungen von politischer Rhetorik, kollektivem Gedächtnis und Raumkonstruktionen schließt Frau Kostopoulos nicht nur an die boomenden Forschungen zur Erinnerungskultur an, sondern – und hierin liegt eine interessante methodische Innovation – auch an das jüngere kulturwissenschaftliche Interesse an Raumkonstruktionen und raumbezogenen Praktiken, die unter dem Etikett des spatial turn laufen.
Den Einstieg in die Untersuchung ermöglicht die exemplarische Lektüre eines besonders einschlägigen Fallbeispiels, nämlich der Anklagerede des Lykurgos gegen Leokrates, die es erlaubt, die avisierten Zusammenhänge in ihrer konkreten rhetorischen Ausformung nachzuvollziehen. Frau Kostopoulos zeichnet hier detailliert nach, auf welche Weise Lykurgos die Behauptungen seiner Rede gezielt durch visuell nachvollziehbare Verweise auf Gebäude und Schauplätze sowie Raummetaphern veranschaulicht und auf diese Weise eine „rhetorische Verräumlichung von Vergangenheit“, wie Frau Kostopoulos schreibt, leistet. Aus dieser dichten Lektüre eines beispielhaften Textes leitet die Verfasserin dann ihre Fragestellung ab, ob Lykurgos’ Rede nur ein besonders prägnanter Einzelfall sei oder ob seine Strategie, die Autorität der Vergangenheit durch den Verweis auf überlieferte Raumstrukturen zu unterstreichen, sich auch sonst nachweisen lässt.
Hierzu wird das Quellenmaterial in den Folgekapiteln anhand der jeweiligen Bezugspunkte für das kollektive Gedächtnis der attischen Kultur vergleichend analysiert: Die Akropolis als Sinnbild der Polis, die Ehrenstatuen auf der Agora, Inschriften und Epigramme, die zentrale Metaphorik der athenischen Stadtmauern, die sowohl Aufstieg wie die Zerstörung Athens symbolisieren, die Gräber von Vorfahren sowie der Gefallenen der Perserkriege, und schließlich das Tropaion als Siegeszeichen aus dem Perserkriegen: All diese konkreten Räume bzw. Raumstrukturen der Stadtgeschichte lassen sich in unterschiedlichen Funktionen immer wieder in den Redetexten nachweisen.
Insbesondere die Vielzahl von Verweisen, Bildern, Texten und Objekten, die die Autorin heranzieht und zu einem stimmigen Bild eines gemeinsamen attischen Erinnerungsraumes verarbeitet, ist für die Leser sehr beeindruckend. Im Fazit wird noch einmal die Stärke dieser Arbeit deutlich: Erfolgreich geling es hier der Autorin, die Arbeit aus der Vielzahl von historischen Beispielen, Belegen und Evidenzen herauszulösen, um die Strategien der Visualisierung von Vergangenheit aufzuzeigen und ihre Bedeutung für die politische Rhetorik der Zeit und damit auch für die ‚Politisierung ‘ der attischen Bevölkerung hervorzuheben.
Die Fülle an Quellen, die die Arbeit heranzieht und die die Autorin zu einem faszinierenden Einblick in die politischen Gemeinwelten einer längst vergangenen Epoche zu verweben vermag, ist auch für fachfremde Leser sehr beeindruckend. Die gelungene Verbindung verschiedener Datengruppen, Materialien, und theoretischer Ansätze in einer – über den engeren Kontext der Arbeit relevanten - wissenschaftlichen These über das Evozieren von Erinnerungsräumen in politischer Rede stellt die große Leistung der Arbeit dar, für die sie heute mit dem Preis der Offermann-Hergarten Stiftung ausgezeichnet wird.
Dr. phil. Simon Roessig
Categoriality and continuity in prosodic prominence
Alle, die die Forschungen an der Philosophischen Fakultät der UzK kennen, wissen, dass die Sprachwissenschaft hier eine bedeutende Rolle spielt, vor allem, seit der Sonderforschungsbereich Prominence in Language seine Arbeit aufgenommen hat. In der Vergangenheit sind immer wieder hervorragende Studien aus diesen Forschungszusammenhängen mit den Offermann-Hergarten Preis ausgezeichnet worden.
Auch dieses Jahr ist das wieder so und zwar mit der von Simon Roessig vorgelegten Arbeit unter dem Titel: Categoriality and continuity in prosodic prominence. – Worum geht es in dieser Untersuchung? Für Nicht-Linguisten bedeutet die Lektüre linguistischer Studien immer eine gewisse Herausforderung. Zu sehr unterscheiden sich Begrifflichkeit, Theorien und Methoden von dem, was in den meisten anderen Fächern der Philosophischen Fakultät üblich ist. Auch die Arbeit von Herrn Roessig bewegt sich natürlich in der Fachterminologie seines Faches. Trotzdem zeichnet sie sich u.a. auch dadurch aus, dass sie bei aller Komplexität in Fragestellung, Argumentation und Befunden stets präzise, klar und für die Lesenden nachvollziehbar geschrieben ist. Auch der außenstehende Leser bekommt einen guten Zugang zu dem Problem, das sich Herr Roessig gestellt hat, wenn er sich die Begriffe des Titels vornimmt. Gestatten Sie mir also als völligem linguistischen Laien eine Vorstellung der Arbeit „Categoriality and continuity in prosodic prominence“ in drei Schritten und zwar in umgekehrter Reihenfolge der Begriffe:
1. Mit Prominenz beschreibt die Linguistik Merkmale der gesprochenen Sprache, durch die Silben oder Wörter als sprachlich hervorgehoben wahrgenommen werden, so dass die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf bestimmte Wörter gelenkt wird.
2. Dabei spielt die Prosodie eine entscheidende Rolle. Damit sind die lautlichen Eigenschaften der gesprochenen Sprache gemeint: Die Betonung einzelner Satzglieder, die Intonation, die Satzmelodie, Sprechrhythmus, Tempo, Tonhöhenschwankungen usw. – Mit solchen sprachlichen Mitteln werden Prominenz erzeugt und Bedeutungsunterschiede markiert. Ein Beispiel, das Herr Roessig selbst gibt: Auf die Frage „Wer hat sich eine Kamera gekauft?“ kann die Antwort lauten: „PETER hat eine Kamera gekauft“. Auf die Frage: „Was gibt es Neues?“ könnte die wortgleiche Antwort durch andere Betonung einen anderen Sinn bekommen: „Peter hat eine KAMERA gekauft“.
3. In diesem Zusammenhang ist das verzwickte Verhältnis von Kategorialität und Kontinuität von zentraler Bedeutung. Ein Teil der Prosodie (laienhaft: der Betonung) wird über klar abgegrenzte, definierte Mittel erreicht, z.B. einen hohen Tonakzent – dies ist mit „Kategorialität“ gemeint. Daneben gibt es aber eine Fülle sprachlicher Mittel, um diesen Akzent zu variieren und ihm mit graduellen Varianten zusätzliches Gewicht zu geben – also „höher“- „niedriger“ oder „früher“ – „später“ – dies ist mit Kontinuität gemeint. In welchem Verhältnis nun kategoriale und graduelle Mittel der Prosodie zueinanderstehen, ist Gegenstand der Untersuchung von Herrn Roessig.
In einer aufwendigen experimentellen Erhebung mit 27 Sprecherinnen und Sprechern hat er die prosodischen Muster der Sprechakte aufgezeichnet und beschrieben und auf die Relation zwischen kategorialen und graduellen Mitteln hin analysiert. Über die Beschreibung der dabei erhobenen empirischen Befunde hinaus hat Herr Roessig ein völlig neues Interpretationsmodell entwickelt, das sich an die Theorie nicht-linearer dynamischer Systeme in der Physik anlehnt. Seine Arbeit zeichnet sich also nicht nur durch eine originelle Fragestellung und ein anspruchsvolles experimentelles Untersuchungsdesign, sondern auch durch innovative, interdisziplinäre Theorieentwicklung aus.
Insgesamt liefert die Arbeit eine neuartige Modellierung, die auf äußerst originelle Weise eine einheitliche Analyse von kategorialen und kontinuierlichen Merkmalen vorschlägt und mit den dynamischen Systemen auch ein Theorieangebot für andere Wissenschaftsdisziplinen macht. Die Arbeit zeichnet sich durch ihren anspruchsvollen interdisziplinären Ansatz aus, der sich darum bemüht, eine Antwort auf Diskrepanzen zwischen Phonologie und Phonetik bzw. kategorialen und kontinuierlichen Beschreibungen des Lautsystems zu bieten. Die Monographie stellt damit ein wichtiges Grundlagenwerk für zukünftige Forschungen dar. Aus all diesen Gründen ist die Arbeit ohne jegliche Einschränkungen preiswürdig. Und dass diese Untersuchung nicht nur die Produktivität des Sonderforschungsbereiches Prominence in Language erneut unter Beweis stellt, sondern auch die Leistungskraft der a.r.t.e.s. Graduiertenschule, in der Herr Roessig mitgearbeitet hat, freut uns zusätzlich.
Dr.'in Melina Teubner
Die »zweite Sklaverei« ernähren. Sklavenschiffsköche und Straßenverkäuferinnen im Südatlantik (1800-1870)
Forschungen zur Geschichte der modernen Sklaverei in den Amerikas sind am Historischen Institut der Kölner Universität seit langem ein wichtiges Forschungsthema. Vor allem der vor nicht allzu langen Zeit emeritierte Michael Zeuske hat hier mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Pionierarbeit geleistet. In diesem Forschungskontext ist auch die Dissertation von Melanie Teubner entstanden, die heute auszuzeichnen ist. Es handelt sich um eine Studie zu einem bisher überhaupt nicht untersuchten Aspekt der sog. „zweiten Sklaverei“ – also dem System illegaler transatlantischer Sklaventransporte nach Brasilien, das sich im Anschluss an das offizielle Verbot der Sklaverei entwickelte und das besonders für den urbanen Raum Rio de Janeiros wichtig wurde. Die Verfasserin befasst sich mit zwei Gruppen, die in einer Grauzone zwischen freier und unfreier Arbeit lebten und wirkten und die mit ihrer Arbeit, obwohl ganz am unteren Ende der Pyramide von Macht und Ungleichheit angesiedelt, selbst Teil der Sklavenhandelsökonomie waren.
Ein zentraler Teil der Arbeit beruht auf der mikrohistorischen Untersuchung der Biographien von 220 Köchinnen und Köchen, die auf portugiesisch-brasilianischen Sklavenschiffen tätig waren, die ihre menschliche Fracht von Westafrika nach Brasilien transportierten. Eine zweite Untersuchungsgruppe sind Straßenverkäuferinnen in der Stadt Rio de Janeiro. Obwohl Schiffsköche und Straßenverkäuferinnen eine zentrale Rolle für die Logistik des Sklavenhandels spielten, sind sie in der Geschichtsschreibung bislang kaum beachtet worden. Nicht zuletzt lag dies am Mangel an einschlägigen Quellen, insbesondere an Selbstzeugnissen der Betroffenen. Ziel der Untersuchung von Frau Teubner ist es, durch eine Rekonstruktion der Biographie dieser beiden weitgehend unerforschten Akteurs gruppen einen Beitrag zur Geschichte subalterner Arbeiterinnen und Arbeiter im Kontext der „Zweiten Sklaverei“ zu leisten und damit zugleich neue Perspektiven auf die Globalgeschichte der Materialität von Schifffahrt, Ernährung und Arbeit zu ermöglichen.
Hierfür hat Frau Teubner mit viel Phantasie und Forscherfleiß eine umfangreiche und äußerst vielfältige Quellengrundlage zusammengestellt: Sie umfasst Listen über die Mannschaften und die Ausstattung von Schiffen, Ladelisten, Abkommen zwischen Schiffseignern und Kapitänen, Protokolle von Gerichtverhandlungen und Verhören, Flucht- und Verkaufsanzeigen sowie Debatten in brasilianischen Tageszeitungen sowie vereinzelte Berichte von Ärzten und Reisenden. In drei großen Kapiteln zeichnet die Verfasserin die erzwungene transatlantische Reise der Versklavten und die Tätigkeit derjenigen nach, die mit ihrer Arbeit das Überleben der menschlichen Fracht sicherstellen sollten.
Im ersten Teil „Auf See“ geht es um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Schiffsköche und ihre Positionierung im verbotenen Sklavenhandel, ihre soziale und räumliche Mobilität und das Alltagsleben an Bord. Der zweite Teil „In der Schiffsküche“ behandelt Aspekte wie die Ausstattung der Schiffsküchen, die Nahrungsmittel- und Trinkwasserversorgung der Verschleppten und der Besatzung sowie die Revolten, die ihren Ausgangspunkt in der Schiffsküche hatten. Im dritten Teil „Im Hafen“ werden Sklavenschiffsköche als Teil einer größeren Arbeiterschaft im Hafen von Rio de Janeiro in den Blick genommen. Während die beiden ersten Teile der Monographie vor allem das Leben von männlichen Köchen darstellen, handelt der der dritte Teil von Arbeiterinnen, d.h. Köchinnen und so genannte Quitandeiras, die in den Häfen Speisen zubereiteten und verkauften.
Sklavenschiffköche und Quintadeiras waren selbst oft ehemalige Sklaven, denen die Ernährung der „zweiten Sklaverei“ die Chance zu sozialem Aufstieg in ein formal freies, jedoch unter extrem prekären Bedingungen existierendes Proletariat ermöglichte. Einigen wenigen gelang sogar der Aufstieg in die Schicht der Kleinunternehmer – bisweilen mit eigenen Sklaven. Sklavenschiffköche und Quintadeiras prägten mit ihren ganz eigenen, kulturellen und existentiellen Hintergründen nicht nur die neuen hochmobilen, interkulturellen und transatlantischen Lebenswelten einer sich entwickelnden urbanen Arbeiterschicht Rios, sondern trugen auch wesentlich zum klassenübergreifenden Wandel der Essgewohnheiten und kulinarischen Traditionen Brasiliens bei.
Insgesamt liefert Frau Teubner also nicht nur einen faszinierenden, detailreichen und innovativen Beitrag zur Erforschung der transatlantischen Sklaverei und der Globalgeschichte der Arbeit, sondern auch zur Arbeiter- und Ernährungsgeschichte Brasiliens. Die besondere Stärke dieses Werkes liegt in der Verknüpfung großer globalgeschichtlicher Themen mit extrem detailgetreuen Darstellungen lokaler Lebenswelten – auf den Schiffen und im Hafen. Ihre kollektivbiographische Methode erlaubt der Verfasserin nicht nur eine lebensnahe Darstellung dieser heterogenen Gruppen, sondern auch, allgemeine Aussagen über die jeweils prägenden Rechtsverhältnisse, Abhängigkeitsformen und Arbeitsbedingungen zu treffen. Für ihre Dissertation erhielt Frau Teubner im Februar 2020 bereits den Dissertationspreis der German Labor History Association. Jetzt kommt noch der Preis der Offermann-Hergarten Stiftung dazu.
Preisträger*innen 2020
PD Dr.'in Susanne Düwell
"Denn nur das Einzelne ist wirklich". Pädagogische, psychologische und kriminalpsychologische Fallsammlungen in Zeitschriften um 1800
„Eines Tages aß Orlow zu viel Erbsenpüree und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonow starb von allein. Und Spiridonows Frau fiel vom Büffet und starb auch.” – So heißt es in einer „Fallsammlung”, die der russische Avantgarde Dichter Daniil Charms in den 30er-Jahren unter dem Titel Fälle verfasste. Der absurde Witz dieser Liste entfaltet sich erst recht im kontrastiven Bezug auf das literarische Genre der Fallgeschichte, das sich um 1800 ausprägte und das im Mittelpunkt von Susanne Düwells Habilitationsschrift steht. Während Charms eine unsinnige Wirklichkeit in der Reihung einzelner Todesfälle evoziert, geht es den Fallgeschichten um 1800 darum, im ausführlichen Studium des Individuellen der Realität näher zu kommen – „denn nur das Einzelne ist wirklich”, wie Düwell mit Karl Phillip Moritz titelt.
Interessant ist dabei allerdings, dass dieses Einzelne auch um 1800 in Sammlungen und Periodika publiziert wurde, also gerade nicht für sich alleine stand. Diesen Umstand untersucht Düwells Studie erstmals aus literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektive. Welche Konsequenzen hat die serielle Veröffentlichungsform der Fallgeschichten für das in ihnen ausgewertete Wissen? Düwell argumentiert, dass sich die Fallgeschichten durch Rekursivität, Serialität und Reflexivität auszeichnen. Sie werden wiederholt aufgegriffen und kontrovers diskutiert; sie werden in Reihen gestellt, die mehr oder weniger deutlich auf eine zu abstrahierende Regel hinweisen und sie fordern zu Reflexionen über ihren wissenschaftlichen Status heraus.
Unter Rückgriff auf Ludwik Flecks Theorie der „Denkkollektive” und „Denkstile” beschreibt Düwell das Wissen der Humanwissenschaften als ein „Zeitschriftenwissen”, das sich durch seine Offenheit und Heterogenität auszeichne; es werde nicht durch Einzelautoren und Monografien, sondern durch von Zeitschriftennetzwerken gebildete „Denkkollektive” gewonnen.
Ein weiterer wichtiger Befund ist, dass das durch Fallsammlungen generierte Wissen die verschiedensten humanwissenschaftlichen Disziplinen speist. Susanne Düwell untersucht in drei umfangreichen Kapiteln die diskursiven Vernetzungen und Publikationskontexte innerhalb der philanthropischen Pädagogik, der Psychologie und der Rechtswissenschaft, um dann ausgewählte Zeitschriften und exemplarische Fallgeschichten zu analysieren. Dabei geht es zum einen darum, Positionen und Interaktionsformen herauszuarbeiten, zum anderen darum, verschiedene Typen der Fallgeschichte von verwandten Textformen (Brief, Gespräch, Tagebuch) abzugrenzen. Der umfassende Charakter der Arbeit zeigt sich nicht nur in dem weit gefassten Korpus, sondern auch in ihrer Integration verschiedenster Forschungsfelder (z.B. die zeitgenössischen Debatten über Theatersucht und Onanie) in die übergeordnete Perspektive. Zudem wird immer wieder der Bezug zwischen den Humanwissenschaften und der Literatur hergestellt, wie er bspw. in der narrativen Form der Fallgeschichte offen zutage liegt, aber auch an anderen Aspekten – Romantheorie und Psychologie, Faktizität und Fiktionalität, Indizienparadigma und Zeichenproblematik – aufgezeigt wird.
Düwells überzeugende Untersuchung findet ein ausgewogenes Verhältnis zwischen literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektiven, was sich u.a. in ihrer Rekonstruktion von wissenschaftlichen Netzwerken und der intensiven Auseinandersetzung mit gattungstheoretischen und narratologischen Fragen zeigt. So verbindet sie eine neue Forschungsperspektive mit einer vertrauten Methodik. Zudem zeichnet sich die Studie durch eine klare Gliederung, Argumentation und Sprache aus, so dass sie auch über den engeren fachwissenschaftlichen Kontext hinaus auf Resonanz stoßen dürfte. Auch aus diesem Grund wird sie mit dem Preis der Offermann Hergarten Stiftung ausgezeichnet.
Dr.'in Jule Schaffer
Unscharfe Spuren? Konzepte des Heiligen und Sakralen in fotografischen Bildern am Beispiel von Andres Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord
Das Heilige und Sakrale sind klassische Sujets der bildenden Kunst in Europa. Jeder Besuch im Kölner Museum Schnütgen oder in den entsprechenden Abteilungen des Wallraf-Richartz Museums oder – selbstverständlich – in einer der Kölner Kirchen führt uns die überragende Bedeutung religiöser Themen und die Vielfalt ihrer Gestaltung in der europäischen Malerei, Bildhauerei und Architektur vor Augen. Zumindest gilt dies für die älteren Epochen. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto weiter differenzieren sich nicht nur die künstlerischen Mittel aus, sondern desto weniger scheinen sich Künstler in einer säkularisierten Welt für das Religiöse zu interessieren.
Jule Schaffer zeigt in ihrer exzellenten kunsthistorischen Dissertation, dass dieser oberflächliche Eindruck täuscht. Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts haben die innerweltlichen Heilsversprechen der wissenschaftlich-technischen Moderne ihren Glanz verloren; das Bedürfnis nach Transzendenz treibt die Menschen weiter um; nicht eine geradlinige Säkularisierung, sondern eine vielstimmige Renaissance des Religiösen, oft jenseits seiner alten Verwalter in den christlichen Kirchen, scheint ein Trend der Zeit. Frau Schaffer analysiert an überzeugend ausgewählten Beispielen, wie diese widersprüchlichen Impulse seit den 1980er Jahren in dem künstlerischen Medium aufgenommen, verarbeitet und reflektiert wurden, das wohl am meisten der technischen Rationalität verbunden ist: der Fotografie. Was bedeutet die visuelle Präsenz des Heiligen in den ‚neuen‘ Medien? Können Fotografien das Heilige anders zeigen, es neu definieren? Was können wir aus dieser Konstellation über unseren Umgang mit fotografischen Bildern und über religiöse Tendenzen in der Gesellschaft lernen? – Ausgehend von diesen Fragen entwirft Jule Schaffer ein anspruchsvolles interdisziplinäres Forschungskonzept, das sowohl die unscharfen Grenzen „des Heiligen“ reflektiert als auch die des „fotografischen Bildes“, dessen künstlerisches Potential gerade nicht in der schlichten „Abbildung“ einer außermedialen Realität liegt. Im Zentrum der Analyse stehen fotografische Darstellungen des menschlichen Körpers, die explizite oder implizite Bezüge zum „Heiligen“ herstellen – ein klassisches Thema. Ausgewählte Werke von Andreas Serrano, David Nebreda und Pierre Gonnord werden einer akribischen und zugleich jederzeit nachvollziehbaren Analyse unterzogen, die zeigt, dass sich die Thematisierung des „Heiligen“ nicht in den traditionellen Bahnen des institutionell verwalteten „Sakralen“ abspielte. Die Sprengkraft dieser Kunst zeigt sich wohl eher in der radikalen Infragestellung solcher Konventionen; nicht zufällig galten manche dieser Bilder als provokativ und skandalträchtig. Die Autorin schafft es zudem, anschaulich und zugleich begrifflich klar und theoretisch fundiert herauszuarbeiten, wo es funktionale und strukturelle Ähnlichkeiten zwischen „dem Fotografischen und (dem) Heiligen“ gibt – Parallelen und Kontaktpunkte zwischen Medium und Thema.
Jule Schaffer hat eine überzeugende Forschungsleistung an der Schnittstelle mehrerer großer Spannungsfelder vorgelegt: Das „Heilige“ und die säkularisierte Moderne, das technische Medium der Fotografie und die Transzendenz, die bildende Kunst der Gegenwart und tradierte Sakralität; Körper, Geist und Moral. Das Ganze ist methodisch sicher gemacht, klar strukturiert und auch für eine Außenstehende oder einen Außenstehenden überzeugend und nachvollziehbar entfaltet. Aus allen diesen Gründen wird die Arbeit mit dem Preis der Offermann-Hergarten Stiftung ausgezeichnet.
Dr.'in Sarah Schwellenbach-Siwonia
Avertiv und Proximativ. Eine korpusbasierte synchrone und diachrone Untersuchung der Romanischen Sprachen
Zu diesem besonderen Anlass, an dem Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für ihre Schriften ausgezeichnet werden, ist es besonders wichtig, dass die Person, die den Preis bekommen soll, weiß, ob sie kurz davor ist, ihn zu bekommen oder ob es nur beinahe geschehen wird. Schon hier zeigt sich die Relevanz der beiden unterschiedlichen Kategorien, die in der Sprachwissenschaft als Proximativ und Avertiv bezeichnet werden. Frau Schwellenbach-Siwonia, die in diesem Moment um keine der beiden Kategorien in Bezug auf den Offermann-Hergarten-Preis mehr bangen muss, hat in ihrer umfassenden historisch-vergleichenden Untersuchung die Grammatikalisierungspfade von Avertiv und Proximativ anhand von Sprachkorpora aus den romanischen Sprachen analysiert. Hierbei geht es um grammatische Formen, in denen der Sprecher die Erwartung ausdrückt, dass eine Situationsveränderung bevorsteht, wobei beide Formen durch Bedeutungsnuancen unterschieden sind. Avertiv-Konstruktionen bringen das zum Ausdruck, was beinahe geschehen wäre. Proximativ-Konstruktionen, dass jemand kurz davor ist, etwas zu tun. In der Literatur ist es bislang umstritten, ob es sich tatsächlich um zwei unabhängige Phänomene handelt und welche Konstruktion sprachhistorisch den Ausgangspunkt darstellt.
Der Hauptteil der Arbeit umfasst eine extrem aufwendige und materialreiche Korpusanalyse, die über alle romanischen Sprachen hinweg synchron vergleichend angelegt ist und diachron die Sprachentwicklungen bis zurück auf das Lateinische und Altgriechische berücksichtigt. Dabei rekonstruiert und analysiert Frau Schwellenbach-Siwonia korpusbasiert verschiedene Grammatikalisierungspfade und zieht so Rückschlüsse zu Proximativ und Avertiv und ihren kontrovers diskutierten Grammatikalisierungsrichtungen.
Dafür war ein theoretisches Modell nötig, in dem Proximativ und Avertiv von anderen bedeutungstragenden grammatischen Einheiten abgegrenzt werden. Genau hier setzt die Untersuchung an und ermöglicht es, Schnittstellen in der Pragmatik und Semantik zu finden, die eine klare Identifizierung der beiden Kategorien ermöglichen. Frau Schwellenbach-Siwonia untersucht die Kriterien, die zur Identifizierung von Proximativ und Avertiv erforderlich sind, und löst die Problematik der funktionellen Überlappung auf semantischer und pragmatischer, aber auch auf syntaktischer Basis.
Gestützt auf ihre korpusbasierten Studien entwirft Sarah Schwellenbach-Siwonia einen neuen theoretischen Ansatz, der hier auf romanische Sprachen bezogen wird, dessen Bedeutung jedoch über die romanischen Sprachwissenschaften hinausgeht. Sie weist Wege zu neuen methodischen Ansätzen zur Untersuchung der beiden Kategorien, die auch auf andere Sprachfamilien anwendbar sind. Daher ist die Arbeit nicht nur für die Romanistik, sondern auch für Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftler aus anderen Fächern ein Gewinn. Diesem Transfer über den engeren Forschungskontext hinaus kommt zugute, dass die Argumentationsstruktur der Arbeit zwar komplex, aber dennoch präzise und nachzuvollziehen ist.
Für diese innovative Arbeit ist Frau Schwellenbach-Siwonia bereits im Jahre 2017 in Zürich mit dem vom Deutschen Romanistenverband vergebenen Elise-Richter-Preis ausgezeichnet worden. Wir freuen uns, dass wir mit dem Preis der Offermann-Hergarten Stiftung eine weitere Auszeichnung für dieses innovative und wichtige Werk überreichen dürfen.
Dr. Alexander van Wickeren
Wissensräume im Wandel. Eine Geschichte der deutsch-französischen Tabakforschung (1780-1870)
Wenn Sie demnächst einmal von Köln aus mit dem Auto in die Schweiz reisen, kann es sein, dass Sie irgendwo zwischen Karlsruhe und Freiburg einige Felder passieren, auf denen eine eher ungewöhnlichen Kulturpflanze gedeiht. Sie sollten dann im Vorbeifahren an die heute auszuzeichnende Dissertationsschrift von Alexander van Wickeren denken. Die Tabakkulturen im Badischen sind nämlich die letzten Zeugen jener komplexen Prozesse transnationalen Wissenstransfers und landwirtschaftlicher Modernisierungsanstrengungen zwischen 1780 und 1870, die Herr van Wickeren in seiner Untersuchung studiert hat. Wie die Tomate und die Kartoffel ist der Tabak ja eine aus Amerika stammende Kulturpflanze, deren Anbau, Verbreitung und Nutzung schon früh zum Gegenstand staatlicher Ökonomisierungsbemühungen, grenzübergreifenden Erfahrungsaustauschs und systematischer Forschung wurde. Herr van Wickeren analysiert am Beispiel der europäischen Tabakindustrie die Rolle transnationaler und kontinentaler Vernetzungen bei der Entstehung neuen – hier agrarischen – Wissens und neuer Wissenspraktiken. Der Autor rekonstruiert anhand umfangreichen Quellenmaterials aus verschiedenen europäischen Archiven, dass die anwendungsbezogene Er-forschung der Tabakkultivierung und –veredelung in Europa, insbesondere in Frankreich und Deutschland, nicht allein eine Angelegenheit nationaler Institutionen und na-tionaler Fortschritte von Wissenschaft und Technik war. Ganz im Gegenteil waren das moderne Wissen und die systematische Entwicklung des Tabakanbaus ein Resultat neuer und sich wandelnder politischer und ökonomischer Raumordnungen, die die Sattelzeit zwischen früher Neuzeit und Moderne im deutsch-französischen Kontext prägten.
Van Wickerens Arbeit zur deutsch-französischen Tabakforschung ist ein Beitrag zur neuen Globalgeschichte, und hier insbesondere zur Rolle transatlantischer, ursprünglich kolonialer Wirtschaftsbeziehungen bei der Generierung neuen, „wissenschaftlich gesichertem“ Wissens – hier am Beispiel des europäischen Tabakanbaus. Die Arbeit grenzt sich dadurch von früheren historischen Forschungen zur Entstehung und räumlichen Organisation von Wissenschaft ab, die zumeist die Bedeutung nationaler Kommunikationsräume betont haben. Van Wickerens Arbeit stellt den „methodischen Nationalismus“ dieser Studien infrage, der von einer linearen Entwicklung der Wissenschaften entlang aufeinanderfolgender Nationalisierungs-, Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse ausgeht. Hier wird im Gegenteil hervorgehoben, dass transkontinentales Wissen schon vor der Entstehung der europäischen Nationalstaaten und des europäischen Imperialismus für die Herausbildung der europäischen Agrarwissenschaften entscheidend war, und dass wichtige Wissensströme nicht nur einseitig von Europa in die Peripherie, sondern auch umgekehrt flossen. Zusätzlich nimmt die Arbeit grenzüberschreitende regionale Kooperationen, Transfers und Dynamiken in der Produktion praktischen Wissens in den Blick, vor allem am Beispiel des Tabakanbaus im französisch-deutschen Rheingebiet.
Wie es Thema und methodischem Zugang dieser transfergeschichtlichen Studie entspricht, wurde die Dissertation im Cotutela-Verfahren zugleich an der Universität zu Köln und an der Science Po/Paris eingereicht und verteidigt. Auch wenn Tabakanbau und -konsum aus bekannten Gründen schwinden, ist ihre Wissensgeschichte ein faszinierender und äußerst ertragreicher Forschungsgegenstand, dessen Potential Alexander van Wickeren in seiner Untersuchung vorbildlich ausgelotet hat.
Dr. Julius Wilm
Settlers as Conquerors. Free Land Policy in Antebellum America
„Land of the Free and Home of the Brave“ - diese Liedzeile aus dem Star Spangled Banner verweist auf die uramerikanische Verheißung von Freiheit und sozialem Aufstieg, die bereits im späten 18. und im 19. Jahrhundert viele europäische Auswanderer den Atlantik nach Westen überqueren ließ. Für einen Großteil der Neubürger war die wichtigste Voraussetzung für wirtschaftlichen Aufstieg und persönliche Freiheit jedoch der freie Zugang zu urbarem Land. Dadurch entstanden politische Forderungen der oft mittellosen Neusiedler an den amerikanischen Staat, freies Land für weiße Einwanderer zur Verfügung zu stellen. Dass die damaligen Washingtoner Eliten dieser politischen Forderung trotz anfänglicher Widerstände nachgaben, wurde in der amerikanischen Geschichtsschreibung oft als wichtige demokratische Errungenschaft der neuen Union hervorgehoben.
Julius Wilms Buch hinterfragt diese gängige Interpretation. Basierend auf der Auswertung umfangreicher Quellenbestände untersucht Wilms Arbeit, welche gesellschaftlichen Dynamiken in der Zeitspanne zwischen Unabhängigkeitserklärung und amerikanischem Bürgerkrieg zu Rechtsänderungen führten, die Landschenkungen an ärmere weiße Siedler ermöglichten. Im Unterschied zum populären Bild des weißen Siedlers, der sein Farmland einer feindlichen indianischen Urbevölkerung abtrotze, saßen die wichtigsten Gegner der freien Landnahme damals in Washington. Es waren die Eliten eines neuen Staates, der sich durch den Verkauf von Land finanzierte, und die am Werterhalt ihres eigenen Landbesitzes interessiert waren. Was bewegte diese dazu, ihren Widerstand gegen Landschenkungen an Neusiedler letztendlich aufzugeben?
Amerikahistorikerinnen und -historiker haben die Entstehung einer free land policy vor 1861 überwiegend auf Interessensgegensätze innerhalb der Gruppe der weißen Siedler zurückgeführt. Wilms Buch erweitert diese gesellschaftliche Perspektive durch Einbeziehung der Gruppe der native americans, die in den betroffenen Gebieten siedelten und im Zuge der Landnahme vertrieben wurden. Der Autor verweist hier auf die Bedeutung eines auf kolonialen Hierarchien basierenden Staatsverständnis. Um die Gesetzesänderungen historisch nachvollziehen zu können, wertet die Arbeit u.a. juristische und politische Debatten der Zeit neu aus. Sie zeigt eindrücklich, dass Neusiedler, die eine aggressive Vertreibung der siedelnden „Indianer“ von ihrem Land betrieben, sich im Kontext eines amerikanischen Siedlerimperialismus als citizen beweisen und dadurch ihre Forderung nach freiem Land nachhaltig legitimieren konnten.
Wilms Arbeit grenzt sich besonders in zwei Bereichen von bisherigen Studien ab. Erstens untersucht das Buch die Entstehung dieser umstrittenen Landpolitik mit einem Ansatz, der die gesellschaftlichen Dynamiken im Kontext einer Geschichte des „Siedlerimperialismus“ analysiert. Zweitens zeigt Wilm, dass die Indigenen zwar formell außerhalb der Gesellschaft standen, ihre Präsenz als politische Subjekte dennoch bedeutsam war und sich in Gesetzen niederschlug, die die politischen Verhältnisse und Interessenslagen auch innerhalb der Gruppe der weißen Siedler nachhaltig beeinflussten. Am Beispiel der free land policy der frühen USA zeigt die Arbeit, wie demokratische Errungenschaften und genozidale Aggression auf verstörende Weise in Bezug zueinanderstanden.
Wilms Arbeit beindruckt durch ihre klare analytische Sprache und ihre Fähigkeit, historisches Spezialwissen und Datenreichtum mit systematischen sozialwissenschaftlichen Perspektiven zu verbinden. Auch Nicht-Expertinnen und -Experten eröffnet die Arbeit neue Einsichten in historische Prozesse mit großer, auch zeitgenössischer Relevanz.
Preisträger*innen 2019
PD Dr. Daniel Gutzmann
The Grammar of Expressivity
„Ich höre den verdammten Wecker klingeln“, „Du fährst ein voll schnelles Auto“ oder „Du Depp“ – solche Ausdrücke beschreiben nicht in erster Linie die Welt. Die sogenannten „Expressiva“ drücken vielmehr Gefühle und Einstellungen des Sprechers aus. Daniel Gutzmann legt nun mit seiner linguistischen Habilitationsschrift „The Grammar of Expressivity“ die erste umfassende Untersuchung zur Syntax sprachlicher Expressiv- Ausdrücke vor. Während es in der Forschungsliteratur bereits zahlreiche Untersuchungen zur Pragmatik und Semantik von Expressiva gibt, ist die Syntax (also die Regeln, nach denen Wörter zu Sätzen zusammengebaut werden) dieser Ausdrücke bislang kaum beachtet worden. Herr Gutzmann vertritt in seinem Buch die neue These, dass die Expressivität von sprachlichen Ausdrücken auch in der Syntax auf substanzielle Weise gespiegelt wird.
In seiner Arbeit führt Herr Gutzmann zunächst genauso kompetent wie konzise in die theoretischen Grundlagen der Semantik und Syntax ein und entwickelt im Anschluss an Chomsky die methodischen Instrumente, mit denen er testet, welche syntaktischen Eigenheiten expressives Vokabular hat. In jeweils eigenen Kapiteln werden die syntaktischen Besonderheiten von expressiven Adjektiven, expressiven Intensivierern und expressiven Vokativen erkundet. Einige dieser Phänomene werden erstmals unter diesem Gesichtspunkt untersucht, bei anderen (wie den Adjektiven) kommt Herr Gutzmann zu völlig neuen und überraschenden Resultaten. Die konkreten linguistischen Analysen werden auf breiter Datenbasis mit stimmig und überzeugend eingesetzten Methoden durchgeführt, und zwar sowohl für das Deutsche als auch für das Englische.
Das Buch von Herrn Gutzmann ist ein Meilenstein der linguistischen Forschung. Erstmals wird überzeugend nachgewiesen, dass es eine eigenständige Grammatik der Expressiv- Ausdrücke gibt. Gleichzeitig ist das Buch, soweit das bei einer solchen, eher technischen Arbeit überhaupt möglich ist, glänzend geschrieben. Auf jeder Seite wird das vielfältige Datenmaterial klar präsentiert und anschaulich illustriert. Deshalb kann es kaum überraschen, dass Gutzmanns Buch 2019 in der renommierten Reihe Oxford Studies in Theoretical Linguistics der Oxford University Press erschienen ist. Ohne Zweifel ist dies eine höchst innovative linguistische Arbeit, bei der man auf das Echo der Fachwelt sehr gespannt sein darf.
Dr.'in Charlotte Jaekel
Vive la Bagatelle. Animismus und Agency bei Friedrich Theodor Vischer
Friedrich Theodor Vischers Wendung von der „Tücke des Objekts“ ist in den allgemeinen Wortschatz eingegangen. Die Bildergeschichten von Wilhelm Busch bieten reichliches humoristisches Anschauungsmaterial für eben diese Tücken. Welche weitreichenden und tiefergehenden Überlegungen sich hinter dieser Wendung verbergen, zeigt Charlotte Jaekel in ihrer Kölner Dissertation.
Der einem Brief des Tübinger Philosophen und Literaten entnommene Titel - Vive la Bagatelle – bringt die These der Arbeit auf eine knappe Formel. Gegen Hegels idealistische Ästhetik, so der schrittweise entfaltete Leitgedanke der Studie, räumt Vischer in seinem philosophischen und erst recht in seinem literarischen Œuvre scheinbar nichtigen und trivialen Dingen eine zentrale Stellung ein. Ja, er schreibt ihnen sogar eine eigene Handlungsmacht zu, und vertritt damit eine Art aufgeklärten Animismus.
Dies legt Frau Jaekel zunächst an Vischers monumentaler Wissenschaft des Schönen (1846– 1858) dar, die mit dem Begriff des „Leihens“ die Übertragung menschlicher Handlungsmacht auf nicht-menschliche Akteure zu beschreiben versucht. An Hand des Romans Auch Einer (1879) wird in einem nächsten Schritt erläutert, wie Vischer in dem dort geschilderten ständigen „Kampf mit dem Racker Objekt“ seine zuvor noch eher defensiv vorgetragenen Überlegungen im fiktionalen Text des Romans radikalisiert — und zwar so weit, dass sowohl Freuds Psychopathologie des Alltagslebens als auch moderne Erzähler wie Kafka oder Doderer daran anschließen konnten.
Die klar strukturierte Arbeit zielt auf die Rehabilitation eines oft als Epigonen abgekanzelten Autors, dessen Reflexionen zur Macht der Dinge in manchem wegweisend scheinen. Die Verfasserin zögert nicht, eine Linie von Vischers philosophischer und fiktionaler Ästhetik zur viel diskutierten Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour sowie zu aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussionen über Animismus und materielle Kultur zu ziehen. Dies verleiht ihrer Dissertation ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit. Diese auch für die Fachgeschichte der Neugermanistik instruktiven und im Ganzen sowohl methodisch innovativen als auch inhaltlich originellen Argumente entfaltet die Studie auf höchstem theoretischen Niveau und zugleich in einer durchweg klaren, anschaulichen und eleganten Sprache, so dass sie insgesamt als unbedingt preiswürdig einzustufen ist.
PD Dr. Axel Rüth
Imaginationen der Angst. Das christliche Wunderbare und das Phantastische
In seiner bewundernswert knappen Habilitationsschrift wendet sich Axel Rüth gegen ein Dogma der Phantastikforschung: nämlich gegen die Behauptung, dass die Genese des Phantastischen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anzusiedeln und dass insbesondere die Allgegenwärtigkeit des christlichen Denkens im Mittelalter mit Formen des Phantastischen unvereinbar sei. Nach einer einflussreichen These des Mediävisten Jacques Le Goff betrieb das christliche Denken nämlich eine „Austreibung des Wunderbaren“, da es natürliche mirabilia ebenso wie göttliche miracula lediglich als erbauliche Erscheinungsformen von Gottes Willen begriff.
Demgegenüber vertritt Axel Rüth in seiner Studie die These, dass sich schon in der nicht- fiktionalen, vorwiegend für ein ungebildetes Publikum verfassten Literatur des europäischen Mittelalters „eine ‚Literarisierung‘ und ‚Ästhetisierung‘ des christlichen Wunderbaren voll- zieht“. Damit wurde der Weg für die Flugblatt-Schauergeschichten der Frühen Neuzeit und für die phantastische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts bereitet. Auch für die Literatur des Mittelalters sei daher die Differenzierung zwischen dem Wunderbaren und dem Phantastischen erkenntnisfördernd. Insbesondere an Hand von mittelalterlichen Wiedergänger- und Werwolfgeschichten arbeitet Herr Rüth heraus, wie solche Texte ein angstvolles Staunen über unerwartete Wunder und eine grundlegende Verunsicherung über deren Realitätsstatus evozieren. Ergänzend dazu werden Transformationen des christlichen Wunderbaren in der phantastischen Literatur der italienischen Moderne untersucht. Es geht dem Autor dabei nicht um die Rekonstruktion einer Vorgeschichte der modernen Phantastik, sondern darum, dem narrativen Potential des christlichen Wunderbaren nachzuspüren, indem mittelalterliche Texte und Erzählverfahren in eine Art Dialog mit der modernen Phantastik gebracht werden.
Die klar aufgebaute, präzise formulierte Abhandlung geht mit ihrer These von einem schon lange vor dem romantischen Schauerroman greifbaren „‘lustvollen‘ Erzählen des Angsteinflößenden“ deutlich über die bisherige Forschung hinaus und schlägt einen originellen Bogen vom Mittelalter bis zur Moderne, der am Ende sogar einen neueren Hollywood-Film einbezieht. Axel Rüths Buch über die „Imaginationen der Angst“ ist ein Buch, das sowohl die Phantastikforschung als auch die Mediävistik wesentlich bereichert und deshalb mit dem Offermann-Hergarten Preis ausgezeichnet wird.
Dr.'in Nadine Maria Seidel
Adoleszenz, Geschlecht, Identität. Queere Konstruktionen in Romanen nach der Jahrtausendwende
Nadine Maria Seidel untersucht in ihrer 2018 eingereichten Dissertation, wie die „Kategorie Geschlecht“ bezogen auf adoleszente Protagonist*innen in Romanen für jugendliche Leser*innen dargestellt und verhandelt wird. Die dabei festgestellten Muster der literarischen Gestaltung werden analysiert und darüber hinaus auf die Herausforderungen und Aufgaben der Lehramtsausbildung bezogen.
Die Arbeit ist zweigeteilt: Im ersten, allgemeinen Teil werden theoretische Zugänge und Debatten zur Darstellung von Geschlecht bzw. Geschlechtlichkeit vorgestellt und forschungsgeschichtlich eingeordnet. Insbesondere werden Fragen erörtert, die sich für queeren Identitätskonstruktionen stellen. Im zweiten Teil analysiert die Autorin drei ausgewählte Erzählthemen (Bacha Posh‐Geschlechterperformanzen, das Transgendermodell und das Motiv der kämpfenden Soldatin), um ihre theoretischen Überlegungen auf empirischer Ebene zu überprüfen. Alle drei Motive stellen Varianten geschlechtlicher Uneindeutigkeit bzw. des Übergangs zwischen den Geschlechtern dar. Die zentrale Zielsetzung der literaturwissenschaftlichen Arbeit ist es, systematisch aufzuzeigen, welches Potential die untersuchten Texte bieten, um überlieferte und etablierte Normalitätsvorstellungen und binär-geschlechtlich geordnete Weltentwürfe in Frage zu stellen und Kriterien für deren Analyse zu erarbeiten.
Eine Kombination gendertheoretischer Konzepte und literaturwissenschaftlicher Methoden liefert das Instrumentarium für die dichte, reflektierte Behandlung dieser Fragestellung. Die Autorin greift dabei u.a. Judith Butlers poststrukturalistischen Ansatz auf und setzt ihn für die Textanalyse um. Die hierdurch inspirierten empirischen Fallstudien analysieren die literarische Thematisierung unterschiedlicher Formen nicht-heteronormativer Identitätsentwürfe und zeigen dabei auch, wie spannungsreich und widersprüchlich das Verhältnis zwischen dem Anspruch einer liberalen und anti-hegemonialen Haltung gegenüber nonkonformen Geschlechtermodellen auf der einen und den konkreten Subjektkonzeptionen auf der anderen Seite ist, die diesem Anspruch durchaus nicht immer entsprechen. Die Studie ist klar gegliedert und wird in sorgfältiger sprachlicher Form präsentiert. Es handelt sich insgesamt um eine innovative Arbeit, deren Thema, methodischer Zugang und Darstellungsform erwarten lassen, dass sie nicht nur im eigenen Fach, sondern auch darüber hinaus Aufmerksamkeit erregen und Anerkennung finden wird.
Dr.'in Sabine Stephany
Sprache und mathematische Textaufgaben. Eine empirische Untersuchung zu leser- und textseitigen sprachlichen Einflussfaktoren auf den Lösungsprozess
In ihrer Dissertationsschrift befasst sich Sabine Stephany mit dem Problem, wieweit sprachliche Prozesse und Faktoren zu Schwierigkeiten beim Lösen von mathematischen Textaufgaben führen. Damit widmet sich die Forschungsarbeit einem Thema, das in den letzten Jahren in der mathematikdidaktischen Forschung an Bedeutung gewonnen hat. Der innovative Ansatz der Arbeit liegt vor allem darin, dass die Textaufgaben aus textlinguistischer Sicht und aus der Perspektive der Textverstehensforschung analysiert werden. Dabei untersucht die Verf. nicht nur, wieweit Aspekte der Bildungssprache zu Schwierigkeiten auf Seiten der Schülerinnen und Schüler führen, sondern sie interessiert sich vor allem für das Wechselverhältnis zwischen linguistisch beschreibbaren sprachlichen Merkmalen und dem Lernprozess. In diesem Sinne ist Frau Stephany nicht nur theoretisch ambitioniert, sondern verfolgt auch einen praxisorientierten, fachdidaktischen Anspruch: Wie lassen sich durch die Formulierung adäquater Aufgaben günstige Lernbedingungen und tragfähige Förderkonzepte ermöglichen?
Die Fragestellung wird sowohl aus theoretischer Perspektive angegangen als auch mittels eines sorgfältig entworfenen Forschungsdesigns unter Einsatz quantitativer Methoden auf empirischer Ebene verfolgt. Auf einen Forschungsüberblick und die überzeugende Darstellung möglicher Einflussfaktoren folgen die Ableitung von Hypothesen und deren empirische Überprüfung. Das für die Kinder ansprechend gestaltete Testmaterial wurde in einer Pilotierung erprobt, bevor es einer größeren Stichprobe (N = 381) von Viertklässler*innen zur Bearbeitung vorgelegt wurde. Die Ergebnisse zeigen u.a., dass es nicht das Verstehen einzelner Wörter ist, was die Erfassung der Textaufgaben erschwert, sondern dass sich die Fähigkeit, globale Inferenzen zu bilden, als größerer Einflussfaktor erweist als das Bilden lokaler Inferenzen. Auch konnte nachgewiesen werden, dass sich die Erhöhung der Textkohärenz positiv auf die Bildung mentaler Modelle auswirkte. So kommt Frau Stephany auf Grundlage ihrer statistischen Auswertung zu dem Schluss, dass „die Betrachtung der Aufgaben als Text … in Anhängigkeit von leserseitigen Merkmalen“ einen wesentlichen Beitrag zur verbesserten Chancengleichheit der Schüler*innen bei der Bearbeitung mathematischer Textaufgaben darstellt. Mit den Ergebnissen ihres Dissertationsprojekts kann Frau Stephany bisherige Forschungsmeinungen widerlegen und dem Forschungsfeld neue Hinweise hinsichtlich des Verständnisses mathematischer Textaufgaben zur Verfügung stellen. Die Wahl der Erhebungs- und Auswertungsmethoden erfolgt überaus sorgfältig und reflektiert. Die Arbeit ist gut nachvollziehbar, klar gegliedert und hinsichtlich des Umfangs der erhobenen und ausgewerteten Daten eindrucksvoll.
Preisträger*innen 2018
Dr.'in Christiane Martina Elster
Die Textilen Geschenke Papst Bonifaz‘ VIII. (1294-1303) an die Kathedrale von Anagni. Päpstliche Paramente des späten Mittelalters als Medien der Repräsentation, Gaben und Erinnerungsträger.
In ihrer Promotionsschrift widmet sich Christiane Elster einem lange Zeit in der kunsthistorischen Forschung kaum beachteten Medium: den liturgischen Textilien. Im Fokus ihrer Untersuchung stehen als Fallbeispiel die neun textilen Geschenke des Papstes Bonifaz VIII. an die Kathedrale von Anagni in Latium. Weitere päpstliche Textilschenkungen werden in der Studie vergleichend berücksichtigt.
Die Arbeit umfasst mehrere Teilbereiche, die sehr gut miteinander verknüpft sind. Ausgangspunkt des opulent und in höchster Qualität bebilderten, prächtigen Bandes ist eine umfassende Dokumentation und Katalogisierung der neun textilen Objekte aus dem Schatz der Kathedrale. Diese liturgischen Textilien, auch Paramente genannt, werden mustergültig vorgestellt sowie deren Geschichte und vor allem deren künstlerische Bedeutung erläutert. Diese Ergebnisse der materiellen Erforschung verknüpft Frau Elster mit den vorhandenen Schriftquellen, um die Geschenkpraktiken in das politische System des spätmittelalterlichen Papsttums einzuordnen. Die Autorin kann damit überzeugend und sehr plastisch darstellen, wie die spätmittelalterlichen Paramente „als Medien päpstlicher Repräsentation (vor der Schenkung), als Gabe (im Moment der Schenkung) und als Erinnerungsträger (nach der Schenkung)“ funktionierten.
Der neben kunsthistorischen Herangehensweisen auch neuere kulturwissenschaftliche Methoden berücksichtigende Ansatz wird u.a. durch theoretische Überlegungen der Ethnologie und der Erinnerungsforschung angereichert. Diese Kombination unterschiedlicher methodischer und theoretischer Zugänge liefert eine dichte, reflektierte Behandlung der übergreifenden Fragestellung. Die Ausführungen der Autorin sind durchgängig klar, in der Argumentationsstruktur überzeugend und analytisch präzise. Auch ein fachlich mit dem Thema nicht vertrauter Leser kann der Darstellung sehr gut folgen. Frau Elster gelingt es nicht zuletzt durch die vielfältigen interdisziplinären Verknüpfungen das Interesse für die spätmittelalterlichen Paramente zu wecken. Und deshalb freuen wir uns, Christiane Elster den Preis der Offermann-Hergarten Stiftung überreichen zu können.
Jun. Prof.'in Dr. Agnes Jäger
Vergleichskonstruktionen im Deutschen. Diachroner Wandel und Synchrone Variation
Agnes Jäger gibt in ihrer linguistischen Habilitationsschrift einen umfassenden sprachwissenschaftlichen und sprachhistorischen Überblick über die Entwicklung der Vergleichskonstruktionen im Deutschen. Sie zeigt auf, unter welchen Bedingungen sog. Äquativvergleiche wie: „Tina singt so schön wie Lena.“ und Komparativvergleiche wie: „Tina singt schöner als Lena.“ auftreten und wie sich diese Konstruktionen im Laufe der sprachgeschichtlichen Entwicklung verändern. Damit rückt Frau Jäger auch sprachliche Variation im Gegenwartsdeutschen in ein neues Licht: So werden Beispiele wie „Tina singt schöner wie Lena“ gerne als Hinweis für einen drohenden Sprachverfall herangezogen – und dies nicht nur in der Gegenwart. Man kann bereits im Deutschen Wörterbuch von Grimm nachlesen, dass die Verwendung des Äquativpartikel „wie“ in Komparativvergleichen (also „Tina singt schöner wie Lena“) ein „wahres gebrechen deutscher zunge“ sei. (Grimm, DWB 1:248)
Frau Jäger zeigt in ihrem Buch, dass diese Verschiebungen einer Systematik unterliegen und beleuchtet unterschiedliche Einflussfaktoren, die dieses bedingten. Ihre Studie der zeitlichen Entwicklung von Vergleichskonstruktionen beruht auf einer breit angelegten quantitativen Korpus Analyse zu allen historischen Sprachstufen des Deutschen, vom Althochdeutsch bis hin zum Gegenwartsdeutsch. Darüber hinaus liefert Frau Jäger auch eine Untersuchung der synchronen, dialektalen Variation der Vergleichskonstruktionen. Bei diesen Analysen zeichnet sich eine mehrstufige Verschiebung der Vergleichspartikeln und damit ein zyklischer Sprachwandelprozess ab, für den Frau Jäger den Terminus "Komparativzyklus" einführt. Sie illustriert anschaulich, durch welche Faktoren dieser Zyklus begünstigt wird und kann zeigen, dass sich vergleichbare Entwicklungen auch in anderen Sprachen finden. Somit ist die umfangreiche Analyse nicht ans Deutsche gebunden, sondern auf andere Sprachsysteme übertragbar. Insgesamt entsteht ein umfassendes Bild der Variation der Vergleichskonstruktionen in diachroner, synchroner und sprachtypologischer Hinsicht.
Das Buch liefert einen reichhaltigen Fundus an Quellen und sorgfältigen Analysen, der für Sprachhistoriker und Sprachtheoretiker gleichermaßen von Interesse sein wird. Der von Frau Jäger vorgeschlagene Komparativzyklus erweitert unser Verständnis zyklischer Phänomene sprachlichen Wandels und leistet somit einen wichtigen Beitrag zur Sprachwandelforschung. Die sprachtheoretischen Überlegungen basieren auf aktuellen linguistischen Ansätzen zur Diachronie und berücksichtigen zudem moderne sprachwissenschaftliche Theorien. Das Buch beeindruckt nicht nur durch die umfassende Beschreibung der Entwicklung der Vergleichskonstruktionen im Deutschen, sondern liefert auch Impulse für die Forschung zu Prozessen des Sprachwandels im weiteren Sinne.
Dr. Frank Kirchhoff
Von der Virgel zum Komma. Die Entwicklung der Interpunktion im Deutschen
Im Alltag unserer heutigen Schriftsprache trifft der Beistrich ja nicht selten auf eine gewisse Ratlosigkeit. Das führt dazu, dass das Komma – wie jeder regelmäßige Leser studentischer Seminararbeiten weiß – oft eher nach dem Zufallsprinzip als nach nachvollziehbaren Regeln über den Text verteilt wird. Dies hat möglicherweise mit der allerjüngsten Geschichte des Kommas nach der sog. Rechtschreibreform zu tun. Um diese jüngste Geschichte geht es Herrn Kirchhoff aber nicht. Er ist an der langfristigen historischen Genese dieses und anderer Satzzeichen interessiert.
Im ersten Teil seiner Arbeit erörtert er auf Basis der Forschungsliteratur zunächst ältere und jüngere Theorien der Zeichensetzung. In der Linguistik stehen sich zwei große Deutungen gegenüber: Die intonatorischen Theorien interpretieren die Satzzeichen – hier vor allem das Komma und seine Vorgängerin, die Vergil, – als sprechsprachlich funktionale Betonungs- bzw. Pausenzeichen. Die syntaxbezogenen Theorien behaupten dagegen, dass die Verwendung der Satzzeichen von den grundlegenden Regeln der Satzbaulehre abhängt. Der Verf. schließt sich mit plausiblen Argumenten der zweiten Richtung der syntaxbezogenen Deutung an und entwirft auf dieser Basis seine historische Forschungsperspektive: Lässt sich die Entwicklung der Zeichensetzung seit dem ausgehenden Mittelalter als Weg von einer willkürlichen oder allenfalls intonatorischen Zwecken folgenden Praxis zu einer regelgebundenen, syntaxorientierten Schreibpraxis beschreiben? Oder lässt sich das syntaktische Prinzip von Anfang an nachweisen, wie Herr Kirchhoff vermutet?
Dieser Frage geht er in einer quantitativen Analyse der Zeichensetzung in 19 Texten vom späten 15. bis zum späten 20. Jahrhundert nach. Höchst akribisch studiert Herr Kirchhoff, nach welcher Logik das Komma gesetzt wurde und wie sich die Kommasetzung über die Zeit änderte. Dabei geht er von den konkreten Schreibpraktiken aus, nicht von abstrakten Regeln der Schreiblehre. Die äußerst aufwendige Untersuchung bestätigt die Ausgangshypothese: Obwohl das Satzzeichenrepertoire in älteren Texte noch deutlich kleiner als in rezenten Stücken war, folgte die Zeichensetzung schon früh den syntaktischen Strukturen. Und auch jüngste Forschungen zum Schrifterwerb von Kindern, die der Verf. ergänzend heranzieht, weisen darauf hin, dass auch ohne Vorgabe expliziter Regel eine syntaxorientierte Zeichensetzung praktiziert wird.
Herr Kirchhoff hat eine Studie vorgelegt, die mit umfassender Theoriekenntnis ein stimmiges empirisches Untersuchungsprogramm entwirft, das anhand eines überzeugend ausgewählten, einen sehr langen Beobachtungszeitraum abdeckenden Textkorpus umgesetzt wird. Auch wenn sich kaum ein kleinerer linguistischer Untersuchungsgegenstand als das Komma vorstellen lässt, wird die Relevanz des Themas überzeugend herausgearbeitet. Die Arbeit zeichnet sich durch klare Thesenbildung, sichere Strukturierung und eine auch für den Laien nachvollziehbare Argumentation und Beweisführung aus. Nicht zuletzt wegen dieser Klarheit und Nachvollziehbarkeit wird diese Arbeit über die Geschichte des Kommas heute mit dem Preis der Offermann-Hergarten Stiftung ausgezeichnet.
Dr. Björn Alexander Schmidt
Visualizing Orientalness. Chinese Immigration and Race in U.S. Motion Pictures, 1910s-1930s
Unsere Gegenwartserfahrung in Deutschland und Europa zeigt immer wieder, welche Konflikte in einer Einwanderungsgesellschaft entstehen können und wie sehr die Wahrnehmung von Einwanderern durch rassistische Stereotype und kulturell kodierte Vorstellungen exotischer „Fremdheit“ beeinflusst werden kann. Die Studie von Björn Schmidt demonstriert am Beispiel der „alten“ Einwanderungsgesellschaft der USA, dass dies durchaus keine neuen Phänomene sind. Und sie analysiert in sehr erhellender Weise, welche Rolle hierbei Massenmedien und vor allem die modernen Bildmedien spielen, die im ganz wörtlichen Sinne bedeutungsvolle, mit Wertungen und Stereotypen aufgeladene Bilder des „Fremden“ erzeugen und popularisieren.
In seiner Arbeit untersucht Herr Schmidt das Bild, das der US-amerikanische Film Anfang des 20. Jahrhunderts von chinesischen Migranten in den USA entworfen und damit deren soziale Wirklichkeit und Wahrnehmung mitgestaltet hat. Hierzu verbindet er auf fruchtbare Weise Methoden der Migrationsgeschichte mit denen der Filmforschung.
Vor dem Hintergrund des Chinese Exclusion Acts von 1882, der die chinesische Immigration in die USA stoppte, wurden die chinesischen Amerikaner zur Folie von Projektionen ethnisch-rassischer Fremdheit, Andersartigkeit und Exklusion, zum „inneren Fremden“, zum amerikanischen Orientalen. Hierbei spielte das zwischen den 1910er und den 1930er Jahren boomende Genre der Filme, in denen die chinesische Community in den USA thematisiert wurde, eine entscheidende Rolle (also Filme wie The Yellow Peril, The mysterious Dr. Fu Manchu, Chinatown after Dark oder Captured in Chinatown).
In vier großen Kapiteln untersucht Herr Schmidt, wie diese Filme die chinesischen Amerikaner als exotische und oft unheimliche, bedrohliche „Fremde“ in der amerikanischen Gesellschaft inszenieren. Welche körperlichen Stereotype bestimmen die Darstellung chinesischer Amerikaner durch „yellowfaces“, d.h. weiße, europäisch-amerikanische Schauspieler, die Chinesen im Film spielen? Wie wird Chinatown als Ort gefährlicher Fremdheit und Andersartigkeit auf amerikanischem Territorium filmisch konstruiert? Wie werden Assimilierungsstrategien und vor allem deren ethnische Grenzen filmisch repräsentiert? Und wie werden „illegale chinesische Immigranten“ im Film dargestellt und zu „alien subjects“ stilisiert?
In jedem dieser Kapitel gelingt es Schmidt, die Details der Immigrationsgeschichte und -politik mit Theorien und Diskursen der Zeit und einer Vielzahl von Filmanalysen fruchtbar miteinander zu verweben, so dass ein prägnantes, eindrückliches und plausibles Gesamtbild entsteht.
Die Verbindung migrationsgeschichtlicher und filmanalytischer Perspektiven ist neu und fruchtbar. Die Arbeit ist außergewöhnlich materialreich und dennoch kohärent. Theoretische Überlegungen und filmische Detailanalysen ergänzen sich produktiv. Das Buch ist lehrreich, gut verständlich, sogar spannend geschrieben. Ein Meilenstein in der Untersuchung der sozialen Wahrnehmung chinesischer Amerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts. Darüber hinaus ist es eine Inspiration für die kritische Analyse der Wirkungsmacht von Bildern in den Konflikten, die mit globaler Migration und kultureller Pluralisierung einhergehen.
Dr.'in Bea Wittger
Squatting in Rio de Janeiro. Constructing Citizenship and Gender from Below
Aus deutscher Perspektive sind Hausbesetzungen mit den Protestbewegungen der 1970er und 1980er Jahre verbunden. Ältere Kölner haben vielleicht auch die Stollwerk-Besetzung im Jahr 1980 vor Augen. In der Arbeit von Bea Wittger, die als Dissertation an der Abteilung für iberische und lateinamerikanische Geschichte des Historischen Instituts entstanden ist, geht es um ähnliche Phänomene in einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext und in ganz anderer Dimension. Sie befasst sich mit der Besetzung zweier leerstehender Hochhäuser in Rio de Janeiro in den Jahren 2004 und 2007. Hunderte Besetzer – Frauen, Männer, Kinder, ganze Familien – okkupierten die Gebäude, richteten sich dort ein, versuchten, ihr alltägliches Leben zu verbessern und verstanden dies z.T. auch als politische Aktionen. Was bewegte diese Menschen? Warum glaubten sie, zu diesen Besetzungen berechtigt zu sein? Wie sahen sie sich als Bürger und ihre Bürgerrechte? Welche Rolle spielten Geschlechterrollen bei diesen Protestpraktiken? Theoretisch lässt sich Frau Wittger von der sozialwissenschaftlichen citizenship-Forschung und den gender-studies leiten. Hierbei fragt sie nach der Konstruktion von „citizenship from below“ durch konkrete politische und soziale Praxis im Zusammenhang mit den Hausbesetzungen. Auch der gendertheoretische Ansatz wird „praxeologisch“ auf die Praktiken des „doing gender“ in den beiden Häusern bezogen.
Nach einer umfassenden theoretischen Herleitung ihrer Konzepte liefert Fr. Wittig zunächst eine beschreibende Darstellung der besetzten Häuser und Bewohner und dann eine durch die Fragen nach citizenship und Geschlechterrollen geordnete, systematische Analyse. Hierbei bedient sie sich vor allem qualitativer sozialwissenschaftlicher bzw. ethnologischer Methoden: Sie hat ausführliche Interviews mit 50 Hausbesetzern geführt und hat selbst mit den Besetzern gelebt und deren Alltag als teilnehmende Beobachterin studiert. Die dichte, mit zahlreichen Interviewzitaten unterlegte Darstellung kommt zu dem Ergebnis, dass für die Besetzer abstrakte Konzepte bürgerschaftlicher Rechte nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Im Vordergrund stand der Wunsch, die unmittelbaren Lebensbedingungen zu verbessern. Hierzu erschien die Besetzung der leerstehenden öffentlichen Gebäude als legitimes Mittel. Frauen spielten eine zentrale Rolle, vor allem, wenn es um die mühsame Aufrechterhaltung des alltäglichen Lebens und die Sicherung der Familien in den besetzten Häusern ging. Im Zentrum ihres Selbstverständnisses standen Verpflichtungen, die aus „Mutterschaft“ erwuchsen – die tradierte Geschlechterrolle war eine mentale und kulturelle Ressource des Protests.
Frau Wittig hat eine prägnante Fallstudien zu den Überlebensstrategien der marginalisierten Unterschichten in der brasilianischen Metropole vorgelegt, die sich ihrem Gegenstand methodisch reflektiert und theoretisch inspiriert, mit hohem Aufwand, sensibel und mit erkennbarer Empathie nähert. Dabei lässt sich Frau Wittger durch ihre theoretischen Referenzen nicht fesseln, sondern ist offen für unerwartete Befunde, die den Ausgangsprämissen nicht unbedingt entsprechen. Bei aller wissenschaftlichen Strenge ist das Buch plastisch und lebendig geschrieben, bringt dem Leser die um ihre Würde und ihre Rechte kämpfenden Armen von Rio de Janeiro näher, lässt auch die Anteilnahme und Solidarität der wissenschaftlichen Beobachterin erkennen. Der Offermann-Hergarten Preis gilt einer ebenso erhellenden wie engagierten Studie.
Preisträger*innen 2017
Dr.'in Sidonia Bauer
La poésie vécue d'André Velter. Berlin: Frank & Timme Verlag 2015.
„La poésie vécue d`André Velter“, die wahre Poesie, die erlebte Poesie des André Velter, so lautet der Titel des ersten Buches, das heute auszuzeichnen ist. Mit dieser großen literaturwissenschaftlichen Studie hat sich Frau Dr. Sidonia Bauer im Fach Romanistik promoviert – und zwar im Rahmen eines Cotutelle Verfahrens der Universitäten Köln und Paris Sorbonne Nouvelle. André Velter, der Autor, dessen Werk hier erstmals umfassend und akribisch analysiert wird, ist einer der bedeutenden französischen Gegenwartsautoren: Der vielfach ausgezeichnete Lyriker, Schriftsteller, Journalist und Essayist gehörte in seinen Anfängen zum Kreis um Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs und hatte Teil an unterschiedlichen künstlerischen Avantgardebewegungen. Vor allem aber war und ist Velter ein Autor und Intellektueller, dessen Werk sich immer wieder und auf ungewöhnliche Weise mit dem Verhältnis zwischen europäischen und außereuropäischen Kulturen befasst. Bis heute ist Velter ein rastloser Reisender: Seine langjährigen Aufenthalte in Indien, Afghanistan und dem Himalaya-Raum, die Auseinandersetzung mit der Tradition, Spiritualität und den Mythologien dieser asiatischen Kulturen haben seinem poetischen Oeuvre – seiner „poésie nomade“ – ein ganz eigenes ‚außereuropäisches’ Gesicht verliehen.
Mit imponierender Werkkenntnis und methodisch hochreflektiert erschließt Frau Bauer Velters Werk. Unter Einbeziehung einer Fülle von Quellen spannt sie einen beeindruckend breiten Bogen zwischen Velters noch stark politisch geprägtem, durch den „Mai 68“ beeinflussten experimentellem Frühwerk aus den 1960er Jahren und seinen jüngeren Veröffentlichungen. Ein besonderes - und berührendes - Kapitel bildet dabei die Interpretation der Liebeslyrik Velters: Als Hommage an die französische Star-Alpinistin Chantal Mauduit, mit der ihn eine jahrelange geheime Liebesaffäre verbunden hatte, veröffentlichte Velter nach deren Lawinentod im Himalaya im Mai 1998 ein poetisches Triptychon, das als Höhepunkt seines Schaffens gilt.
Sidonia Bauer liefert mit ihrer Studie eine Fülle neuer Einsichten in die Entwicklung und Editionsgeschichte dieses vielgestaltigen Werkes. In überzeugender Weise gelingt es der Autorin zudem, die internationale Dimension der Poetik Velters hervortreten zu lassen, etwa in seinen Bezügen zu dem mexikanischen Lyriker Octavio Paz. Diese Pionierleistung verdient es nach einstimmiger Meinung der Jury, mit dem Preis der Offermann-Hergarten Stiftung ausgezeichnet zu werden. Zugleich werden damit auch die produktiven internationalen Forschungsbeziehungen des romanischen Seminars gewürdigt, die diese Studie möglich gemacht haben und die in dem gemeinsamen Promotionsverfahren der Kölner Universität und der Pariser Sorbonne Nouvelle zum Ausdruck kommen. Unser herzlicher Glückwunsch an Sidonia Bauer.
Dr.'in Stefanie Coché
Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941-1963
Stefanie Coché legt mit ihrer geschichtswissenschaftlichen Dissertation Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrische Einweisungspraxis im Dritten Reich, in der DDR und der Bundesrepublik 1941-1963 die erste vergleichende Studie zu den Verfahren der Einweisung von Patienten in psychiatrische Anstalten in der späten NS-Zeit, der DDR und der frühen Bunderepublik vor. Dabei ist ihr wissenschaftlicher Ansatz im doppelten Sinne innovativ. Erstens erweist sich der Vergleich dieser drei, höchst unterschiedlichen politischen Systeme als außerordentlich fruchtbar. Dieser Effekt wird dadurch verstärkt, dass auch der Zeitraum der Betrachtung klug gewählt ist: im „späten“ Dritten Reich wusste die Bevölkerung bereits von Krankenmorden in den Anstalten; die DDR und die Bundesrepublik werden im Zeitraum des Wiederaufbaus noch vor dem Beginn der Reformpsychiatrie untersucht. Zweitens bezieht Cochés Studie methodisch erstmals den weiteren gesellschaftlichen Kontext explizit mit ein, also gesellschaftliche und psychiatrische Vorstellungen von Normalität, Sicherheit und Krankheit sowie die Korrespondenz zwischen Ärzten und den Familien der Betroffenen. Im Herzstück der Arbeit wird die Einweisungspraxis vergleichend unter vier leitenden Gesichtspunkten untersucht: 1. Welchen Einfluss hatte der Staat auf die Einweisungen?, 2. Wie erfolgten Zwangseinweisungen konkret?, 3. Wie verlief der ärztlich-medizinische Diskurs im Hintergrund? und 4. Welche Rolle spielten Arbeitsunfähigkeit und die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in der begleitenden Argumentation?
Frau Coché kommt zu sehr überraschenden und hochinteressanten Ergebnissen. Für alle drei Systeme lässt sich festhalten, dass Einweisungen häufig nicht nach formell-exakten Spielregeln erfolgten, sondern das Resultat einer Aushandlung mit dem sozialen (oft familiären) Umfeld der Betroffenen auf Grundlage gesellschaftlich akzeptierter Argumentationsmuster waren. Auf der anderen Seite zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen den Systemen: In der späten NS-Zeit wurden die Anstalten trotz der offenkundigen Gefahr für die Patienten häufig von Angehörigen zur Einweisung gedrängt. Während in der DDR der starke Einfluss des sozialen Umfeldes auf die Einweisungen in einem rechtlichen Vakuum erhalten blieb, suchte man in der frühen Bundesrepublik nach einer dezidierten Verrechtlichung der Einweisungspraxis.
Stefanie Coché gelingt es in ihrer Studie meisterhaft, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Vorstellungen und Dynamiken der Ausgrenzungen und Abschiebungen in die Psychiatrie am Beispiel der Einweisungspraxis zu beleuchten. Dabei entsteht eine glänzend geschriebene und über weite Strecken spannend erzählte Geschichte, die immer wieder an konkreten und lebendigen Fallerzählungen exemplifiziert wird. Das Buch ist thematisch und methodisch hoch innovativ, sodass es zu einem Meilenstein der Fachdiskussion werden dürfte.
Dr. Marcel Danner
Wohnkultur im spätantiken Ostia. Kölner Schriften zur Archäologie 1, Wiesbaden 2017.
Die Arbeit von Marcel Danner, die heute ausgezeichnet werden soll, widmet sich einer bis anhin noch wenig erforschten Periode der klassischen Antike, nämlich der Zeit vom 3. bis 5. nachchristlichen Jahrhundert. Konkret geht es um die Wohnbebauung und die Wohnkultur im (spät)antiken Ostia, der ursprünglichen Hafenstadt Roms an der Mündung des Flusses Tiber.
In seiner 2012 abgeschlossenen Dissertation beschreibt und analysiert der Autor auf der Basis eines umfangreichen Quellenbestandes zu insgesamt 18 Gebäuden das spätantike Wohnwesen in Ostia (3.-5. Jh.). Die Untersuchungsrichtung beginnt dabei mit den großen Zusammenhängen und wendet dann den Blick auf die Details. Zuerst wird das gesamte Siedlungsbild von Ostia und dessen generelle Strukturierung angeschaut. Davon ausgehend widmet sich Herr Danner dann den einzelnen Häusern und danach den verschiedenen Wohnelementen innerhalb dieser Gebäude. Schließlich werden die gewonnenen Erkenntnisse mit Fallbeispielen aus anderen Siedlungen abgeglichen, um abschließend zu einem Gesamtbild des spätantiken Wohnwesens zu gelangen. Aus einer Lokalstudie zu der römischen Hafenstadt werden also verallgemeinernde Schlüsse zum Wohnen und zur Alltagskultur im späten römischen Reich gezogen.
Die Arbeit nutzt das vorhandene theoretische und methodische Instrumentarium, diskutiert dieses äußerst sachkundig und gelangt zu einer den archäologischen Befund an den Ausgangpunkt stellenden und im ersten Schritt auf strukturelle Merkmale blickenden, vergleichenden Analyse. Aber nicht nur archäologische Grabungsbefunde, sondern auch literarische Texte werden herangezogen und vervollständigen das umfangreiche Quellenkorpus. Das stützt eine anspruchsvolle interdisziplinäre Perspektivierung: Herr Danner hat eine archäologische Studie vorgelegt, die einem primär sozial- und kulturhistorischen Forschungsinteresse folgt, dabei aber auch architektur- und kunsthistorische Aspekte mit im Blick hat.
Gerade mit dieser perspektivischen Breite liefert diese umfangreiche Studie eine wichtige Ergänzung unseres Wissens über die Gesellschaft der Spätantike im mediterranen Raum, die weit über die Detailanalyse von Wohnbauten und Siedlungsformen hinausgeht.
Dr. Michael Homberg
Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870-1918. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017.
Das Buch von Michael Homberg befasst sich mit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, aber wenn man auf den Untertitel schaut, kann man unschwer seine Gegenwartsbedeutung erkennen: „Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt“ – In einer Zeit, in der professioneller Journalismus mit der „Schwarmintelligenz“ und „Schwarmdummheit“ des Internets konkurrieren muss, in der „alternative Wahrheiten“ und „fake-news“-Verdächtigungen systematisch das Vertrauen in die Medienberichterstattung unterminieren und in der ein amerikanischer Präsident Politik mit 140 Zeichen-Nachrichten macht, ist eine Studie, die sich mit der Entstehungsgeschichte der journalistischen Reportage beschäftigt, von hoher Aktualität. Hier werden gravierende Unterschiede erkennbar, aber auch Ähnlichkeiten, handelt es sich doch um die Zeit, in der die Massenmedien erstmals in systematischer Weise begannen, Anlass und Gegenstand ihrer Berichterstattung selbst zu kreieren.
Michael Hombergs Arbeit widmet sich einer ambitionierten Fragestellung: Es geht um den Aufstieg der literarischen Reportage und der Sozialfigur des „Reporters“ zwischen 1870 und 1918, also in der Zeit der Entstehung moderner Massenkommunikationsmittel und der Entfaltung einer metropolitanen Kultur. Dieses große Thema erschließt der Autor aus einer breit entfalteten interdisziplinären Perspektive, die literatur-, medien- und geschichtswissenschaftlichen Methoden aufgreift und gekonnt verbindet. Auch die Betreuung der Arbeit durch einen Literaturwissenschaftler und einen Historiker spiegelt das interdisziplinäre Konzept. Imponierend ist aber nicht allein die Beherrschung eines komplexen methodischen Instrumentariums, sondern vor allem der breite vergleichende Blick und die quellengesättigte Darstellung des Neuen Journalismus in der Formationsphase des globalen Nachrichtenwesens. Homberg nimmt den Leser mit auf Reporter-Streifzüge in immerhin vier Metropolen des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts: Berlin, Paris, London und New York sind die Orte, in denen er verfolgt, wie die Figur des „Reporters“ und das neue Textgenre der literarisch ambitionierten Reportage Konturen gewannen. Überaus anschaulich stellt er heraus, in welchem Maße solche
Augenzeugenberichte literarischen Modellen verpflichtet waren und wie sehr sie im Spannungsfeld von Dokumentation und Sensationalismus standen. Seine klar aufgebaute, schön illustrierte und gut lesbare Arbeit bietet einen akribisch recherchierten, doch immer wieder auch unterhaltsamen Überblick über eine im internationalen Vergleich noch wenig erforschte Gattung. – Und deshalb überreichen wir Michael Homberg heute den Preis der Offermann-Hergarten Stiftung. Herzlichen Glückwunsch.
Dr. Kristoff Kerl
Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er-1920er Jahre. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2017.
Im Zentrum der diskursanalytisch ausgerichteten Studie, die im Spannungsfeld zwischen Geschichts- und Kulturwissenschaft zu verorten ist, steht die Frage nach den Wurzeln des modernen Antisemitismus in den USA. Der Fall des jüdischen Fabrikdirektors Leo Frank, den man der Vergewaltigung eines Mädchens verdächtigte und der 1915 in einer aufgeheizten antisemitischen Atmosphäre aus dem Gefängnis befreit und von einem Mob gelyncht wurde, bildet dabei den Ausgangspunkt, aber nicht das Zentrum der Arbeit. Der Mord an Leo Frank wird vielmehr als besondere Zuspitzung antisemitisch-rassistischer Strömungen in den Südstaaten beschrieben. Ihre Anfänge reichten bis in die 1860er Jahre zurück und waren eng mit dem verlorenen Bürgerkrieg verknüpft.
Kerls sehr verdienstvoller Studie verfolgt mit großer Genauigkeit jene Diskurse, in denen sich nach dem Ende des Bürgerkriegs aus dem bereits bestehenden Rassismus der moderne Antisemitismus in den amerikanischen Südstaaten herausbildete. Wie bei anderen Varianten des Antisemitismus ist auch hier zu beobachten, wie soziokultureller Wandel, Verunsicherung und Bedrohungswahrnehmungen durch die Erfindung stereotyper Feindbilder verarbeitet und Juden zu universellen Sündenböcken erklärt werden. Der Zuzug ungeliebter Nordstaatler in den Süden, die tiefe wirtschaftliche Krise der Farmer und die verstärkte Erwerbstätigkeit von Frauen stellten die gewohnten Macht- und Geschlechterverhältnisse in Frage. Und immer wieder wurden Juden als die angeblichen Wegbereiter dieser Veränderungen angegriffen. Dies war ein entscheidender Impuls zur Wiedergründung des in den 1870er Jahren verbotenen rassistischen Geheimbundes des Ku-Klux-Klan im Jahre 1915.
Die große Stärke dieser sehr lesbaren Arbeit ist die genaue, differenzierte Analyse jener Prozesse, die sich im Zuge des Leo Frank-Case zu dem verdichteten, was als ‚neuer’ amerikanischer Antisemitismus bezeichnet wird. Zugleich wird jedoch herausgearbeitet, in welch hohem Maße dieser ‚neue’ Antisemitismus auf bereits lange bestehende antisemitische Vorstellungen zurückgreifen konnte, die sich in den 1910er Jahren „zu einer umfassenden .. Weltsicht“ (297) verdichteten. Auf gelungene Weise bewältigt Kristoff Kerl eine große Materialfülle, rekonstruiert die allgemeinen historischen Kontexte und verbindet die Geschichte des Antisemitismus mit aktuellen Forschungsansätzen. Überzeugend zeigt Kristoff Kerl in seiner Studie die große Sprengkraft auf, die aus der Verbindung zwischen Antisemitismus und Sexualität resultieren kann – eine Verbindung, deren verheerendes Potenzial auch in den folgenden Jahrzehnten ihre Wirksamkeit in der antisemitischen Propaganda noch mehrfach unter Beweis gestellt hat. Wegen dieser Erkenntnisse und auch wegen der großen Klarheit und Präzision der Darstellung wird die Studie heute mit dem Offermann-Hergarten Preis ausgezeichnet.
Preisträger*innen 2016
Dr. Frank Förster
Der Abu Ballas-Weg. Eine pharaonische Karawanenroute durch die Libysche Wüste
Die erste Arbeit, die heute ausgezeichnet werden soll, bewegt sich mit ihrem Thema an der Schnittstelle von Ur- und Frühgeschichte und Ägyptologie.
Jahrelang hat sich ihr Autor, Frank Förster, vor Ort in der westlichen Wüste Ägyptens aufgehalten und unter teils schwierigsten Bedingungen das Quellenmaterial für seine Dissertation gesammelt. Unter Einbeziehung aller Sachüberreste sowie schriftlicher und bildlicher Quellen gelingt es ihm, einen alten Verkehrsweg durch die Wüste nachzuweisen, zu dessen Nutzung in regelmäßigen Abständen Versorgungslager mit Wasser und Nahrung für die pharaonischen Eselskarawanen angelegt worden waren, deren Überreste (der Versorgungslager, nicht der Esel) sich z.T. bis heute erhalten haben.
Der Autor bleibt aber nicht beim reinen Nachweis dieser antiken Verkehrsverbindung stehen, sondern entwirft darüber hinaus unter Nutzung verschiedener Forschungsansätze ein anschauliches Bild des immensen logistischen Aufwands, der vom pharaonischen Staat unternommen wurde, um diesen Karawanenweg zu betreiben. Unter Auswertung weiterer Quellen gelingt es Herrn Förster zudem überzeugend, den Abu-Ballas Weg, der immer nur zu ganz bestimmten historischen Phasen genutzt wurde, in seinen geschichtlichen Kontext zu einzuordnen.
Über das ganze Werk hinweg besticht immer wieder die Methodenkompetenz, die vom Autor an den Tag gelegt wird, sowie die überzeugende argumentative Anlage: Zu jedem Abschnitt des Buchs werden zuerst Thesen und Antithesen vorgelegt, die dann mit gut begründetem Urteil entweder bestätig oder verworfen zu werden. Die Arbeit zeigt einen klaren und präzisen Aufbau, dem der Leser ohne Schwierigkeiten folgen kann. Sie ist hervorragend illustriert und schließt erfreulicherweise mit Zusammenfassungen in insgesamt vier Sprachen ab. Es handelt sich um eine der Dissertationen, die auch von Fachfremden mit Gewinn und Genuss gelesen werden kann – auch deshalb wird sie mit dem Offermann-Hergarten Preis ausgezeichnet.
Förster, Frank, Der Abu Ballas-Weg. Eine pharaonische Karawanenroute durch die Libysche Wüste, Africa Praehistorica 28, Heinrich Barth Institut, Köln: 2015.
Dr. Felix Giesa
Graphisches Erzählen von Adoleszenz. Deutschsprachige Autorencomics nach 2000
Bei der zweiten der heute auszuzeichnenden Arbeiten handelt es sich um eine literaturwissenschaftliche Dissertation. Welches sind Gegenstände der Literaturwissenschaft? Die meisten von uns würden bei dieser Frage an die „klassischen“ Gattungen denken: an das Drama (das wir seit der Antike kennen), den Prosaroman (der in der Spätantike entstanden ist) oder die Novelle (der wir in der frühen Neuzeit das erste Mal begegnen). – Um alles dies geht es hier nicht, sondern um eine sehr junge Textgattung, die lange Zeit auch gar nicht als „würdiger“ Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung erachtet wurde: Es geht um Comics, also ein Genre, das im 20. Jhd. einen enormen Aufschwung nahm, aber erst seit recht kurzer Zeit als literarische Form ernst genommen wird. Breitere Anerkennung wurde dem Comic bzw. der Graphic Novel erstmals zuteil, als Art Spiegelmans Werk „Maus. A Survivor’s Tale“ im Jahr 1992 als erster Comic mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet wurde.
Obwohl sich der Comic inzwischen als komplexes episches Genre etabliert hat, finden sich in der Forschung erst wenige Ansätze einer Theorie des graphischen Erzählens. Angesichts dieser Forschungslage präsentiert Felix Giesa nicht nur eine überzeugende empirische Studie, sondern leistet auch theoretisch-methodische Grundlagenarbeit und liefert einen wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Comictheorie.
In der eigentlichen Untersuchung analysiert Herr Giesa Comics, die sich mit Thema der Adoleszenz – also mit dem Erwachsenwerden – beschäftigen. Anhand der ausgewählten Adoleszenzcomics von Mawil Wir können ja Freunde bleiben (2005), Flix sag was (2004), Kati Rickenbach Jetzt kommt später (2011), Naomi Fearn Dirt Girl (2004), Arne Bellstorf acht, neun, zehn (2005) und Aisha Franz Alien (2011) führt Felix Giesa gekonnt in die Funktionsmechanismen innovativer Bild-Text-Narrative ein. Überdies gelingt es ihm, zu zeigen, dass die Comics Adoleszenzerfahrungen auf eine überraschende und differenzierte Weise zur Darstellung bringen, die auch eine Revision gängiger jugendsoziologischer Befunde erfordert. Insofern weisen die Ergebnisse seiner Arbeit über den Horizont der Literaturwissenschaften hinaus. Herzlichen Glückwunsch zu dieser Leistung.
Giesa, Felix, Graphisches Erzählen von Adoleszenz. Deutschsprachige Autorencomics nach 2000. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2015.
Dr.'in Marie Isabel Kaiser
Reductive Explanation in the Biological Sciences
Marie Isabel Kaiser beschäftigt sich in ihrer auf Englisch verfassten philosophischen Dissertation Reductive Explanation in the Biological Sciences mit der wissenschaftstheoretischen Frage, was reduktive Erklärungen in der Biologie eigentlich sind. Dabei ist ihr wissenschaftlicher Ansatz im doppelten Sinne innovativ. Im Zentrum steht erstens nicht mehr die inzwischen fast totdiskutierte Frage, ob Erklärungen in den Lebenswissenschaften generell aus niederstufigen Erklärungen, z.B. der Chemie oder Physik, ableitbar sind, sondern in welchem Sinne einzelne biologische Erklärungen ‚reduktiv‘ genannt werden sollten. Und zweitens nähert sich Frau Kaiser ihrem Thema methodisch von der tatsächlichen Praxis biologischer Forschung aus an und vermeidet es, abstrakte und anwendungsferne Ideale zu diskutieren.
Im Herzstück ihrer Arbeit entwickelt Frau Kaiser anhand von vielen konkreten und anschaulichen Beispielen ein ganz neuartiges Verständnis reduktiver Erklärungen in der Biologie. Danach liefern uns diese Erklärungen Modelle vom Wissen biologischer Phänomene, die auf dem Verständnis ontologisch niedrigerer Stufen und einer isolierten Betrachtung der Funktion der Teile von biologischen Objekten beruhen. Die reduktiven Erklärungen müssen sich jedoch nicht nur auf das Objekt selbst beziehen, sondern können auch die Umwelt oder die evolutionäre Geschichte einbeziehen. Der Vorschlag von Frau Kaiser ist neuartig und kann reduktive Erklärungen auch überzeugend von anderen Erklärungstypen abgrenzen.
Marie Kaisers Arbeit greift nicht nur hochkompetent ein wichtiges Thema aus der Philosophie der Biologie auf. Sie eröffnet durch ihren praxisnahen Zugang vor allem auch methodisch und begrifflich neue und wegweisende Perspektiven. Dabei gelingt es ihr geradezu bravurös, den Nachvollzug der zum Teil sehr abstrakten Gedankengänge in einen nachhaltigen Lektüregenuss zu verwandeln, indem sie auf gelungene Weise eine Vielzahl veranschaulichender und Verständnis fördernder Techniken benutzt. Bereits ein Jahr nach der Publikation deutet das erkennbare Echo in der Fachwelt darauf hin, dass Marie Kaisers Buch zu einem Meilenstein in der Fachdiskussion werden wird. Mit der Verleihung des Offermann-Hergarten Preises wollen wir diese hervorragende Leistung ebenfalls würdigen.
Kaiser, Marie Isabel, Reductive Explanation in the Biological Sciences. Springer (Reihe: History and Theory of the Life Sciences) 2015
Dr. Andreas Maier
The Central European Magdalenian. Regional Diversity and Internal Variability
Die Studie von Herrn Maier führt uns in die jungpaläolithische Kulturepoche des Magdalenian. Dies war die Zeit vor ungefähr 17-12.000 Jahren, in der Zentraleuropa nach dem Rückgang der letzten eiszeitlichen Vergletscherung erneut besiedelt wurde. Er stellt sich die Frage, wie sich die menschlichen Siedlungsmuster nach dem Eis ausbreiteten. Dazu analysiert Herr Maier im Detail 26 Fundkonglomerate, vor allem aber liefert er eine zusammenfassende, auf Synthese angelegte Auswertung der in der Forschungsliteratur publizierten Daten zu rund 700 Fundstätten aus dem gesamten der Magdalenian Kultur zugerechneten Raum. Ausführlich und präzise werden zunächst der methodische und theoretische Rahmen abgesteckt und das reichhaltige Fundmaterial beschrieben, bevor der Verf. seine Neuinterpretation der Siedlungs- und Kommunikationsmuster sowie der Besiedlungschronologie vorlegt.
In seiner klar argumentierenden, auf breites Quellenmaterial gestützten, methodisch ambitionierten und theoretisch reflektierten Synthese kommt Herr Maier zu einer überzeugenden Neudeutung des Siedlungsszenarios: Aufgrund von Ähnlichkeiten der Artefakte, der Analyse von Austauschbeziehungen und der Herkunft von Materialien unterscheidet er fünf regionale Siedlungsgruppen, die sich wiederum zwei Großgruppen – einer westlichen und einer östlichen – zuordnen lassen. Gegen die bislang herrschende Forschungsmeinung kann Herr Maier außerdem zeigen, dass die nacheiszeitliche Wiederbesiedlung des zentraleuropäischen Raumes nicht in einer West-Ost-Einbahnstraße, sondern sehr wahrscheinlich gleichzeitig von einem westlichen und einem östlichen Herkunftsgebiet ausging. Beide Gebiete standen zudem – auch dieser Befund weicht von bisherigen Vorstellungen ab – in lockerem, aber für den Kulturtransfer ausreichend dichtem Kontakt. Die schlüssige Argumentation und Beweisführung zeigen eindrucksvoll die Erkenntnismöglichkeiten einer synthetisierenden Re-analyse der vorliegenden Forschung. Sie stellen ältere Deutungen und stereotype Vorstellungen einer West-Ost-Besiedlung überzeugend in Frage und demonstrieren zudem den Erkenntniswert von Theorien (Milgrams small-world-These), die ursprünglich in ganz anderem Zusammenhang entworfen wurden. Hervorzuheben sind überdies die reichhaltige Ausstattung des Bandes mit Bild- und Kartenmaterial sowie die klare sprachliche Form des Textes. Wir gratulieren herzlich zur Verleihung des Offermann-Hergarten Preises.
Maier, Andreas, The Central European Magdalenian. Regional Diversity and Internal Variability, Springer: Dordrecht 2015.
Dr.'in Uta Reinöhl
Grammaticalization and the Rise of Configurationality in Indo-Aryan
Die letzte Arbeit, die heute vorzustellen ist, kommt aus der Linguistik. Uta Reinöhl ist eine außergewöhnlich vielversprechende junge Forscherin, die mit ihrer Dissertation ein Werk vorgelegt hat, welches man mit Fug und Recht als „bahnbrechend“ bezeichnen kann. Über den gesamten belegten Zeitraum von ca. 3.000 Jahren hinweg untersucht sie die Entwicklung und Wandlung vom vedischen Sankrit über das Mittelindische und klassische Sanskrit bis hin zum modernen Hindi, also eine 4 Sprachstufen umfassende Wandlung.
Es geht um die Frage, wie sich ein sog. nichtkonfigurationales Sprachsystem, das sich durch sehr freie Wortstellung auszeichnet, zu einem konfigurationalen Sprachsystem entwickelt, das durch eine fixierte Wortstellung und eine hierarchisch organisierten Phrasenstruktur charakterisiert ist. Die Arbeit beindruckt nicht nur durch die genauen empirischen Analysen, sondern auch durch ihre anspruchsvolle theoretische Diskussion. Frau Reinöhl kann präzise zeigen, wie Prozesse der Grammatikalisierung nach und nach den Wandel von einer nicht-konfigurationalen zu einer konfigurationalen Sprache bedingen. Ihre Arbeit leistet einen herausragenden und überaus originellen sprachwissenschaftlichen Beitrag, und zwar sowohl zur Geschichte der indoarischen Sprachen als auch in Bezug auf theoretische Grundsatzfragen der Grammatikalisierung.
Fiel es bisher in der Indologie schwer, den Studierenden zu verdeutlichen, was denn das moderne Hindi noch mit der vedischen Sprache der Indo-Arier gemeinsam hat, so hat Frau Reinöhl uns nun eine klare und einleuchtende Argumentation geliefert. Nicht umsonst wurde das bei Oxford University Press publizierte Werk (einer der besten Adressen) schon zweimal ausgezeichnet: zum einen durch die Deutsche Gesellschaft für Sprachwissenschaft als „Beste Dissertation“ mit dem Wilhelm von Humboldt Preis 2015, zum anderen mit einer „Besonderen Auszeichnung“ durch die Studienstiftung des Deutschen Volkes. - Die Offermann-Hergarten Stiftung schließt sich hier nun gerne an und prämiert das Werk von Frau Reinöhl.
Leider kann Frau Reinöhl den Preis heute nicht selbst entgegennehmen, da sie sich z.Zt. zu einem Forschungsaufenthalt in Australien aufhält. Sie hat ihren Kollegen Felix Rau gebeten, sie zu vertreten und den Preis - und stellvertretend auch unseren Applaus - entgegenzunehmen.
Reinöhl, Uta (2016): Grammaticalization and the Rise of Configurationality in Indo-Aryan. Oxford: University Press.
Preisträger*innen 2015
Dr.'in Anastasia Bauer
The Use of Signing Space in a Shared Sign Language of Australia
Das erste Buch, dessen Autorin heute ausgezeichnet wird, ist eine linguistische Arbeit. Der Laie denkt bei „Linguistik“ meist an die gesprochene Sprache – das lateinische „lingua“ bedeutet ja ursprünglich „die Zunge“. In der Studie von Anastasia Bauer – unser Preisträgerin – geht es um etwas anderes, nämlich um eine Zeichensprache. Mit ihrer Untersuchung The Use of Signing Space in a Shared Sign Language of Australia legt sie eine wirkliche Pionierarbeit vor: Zum ersten Mal überhaupt wird hier die komplexe Zeichensprache der Yolngu vorgestellt, einer australischen Aborigine-Sprachgemeinschaft aus Northeast-Arnhem-Land. Das Material hat die Autorin während zweier Feldforschungsaufenthalte gesammelt – hauptsächlich in Form von Video-Aufzeichnungen, die in der Arbeit analysiert wurden.
Die Zeichensprache der Yolngu ist ein neben der gesprochenen Sprache existierendes Verständigungsmittel – durchaus auch für HÖRENDE – wie man es aus zahlreichen Stammeskulturen auch außerhalb Australiens kennt.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der Gebrauch von „Raum“ (d.i. der freie Raum vor, hinter und neben dem in Zeichensprache Kommunizierenden). Dieser Raumbezug wird besonders deutlich bei den Pronomen und Verwandtschaftswörtern. Um Verwandtschaften zu bezeichnen, wird der gesamte Raum um den Kommunizierenden herum benutzt: „Schwester“ wird angezeigt durch die Berührung des Unterschenkels, „Mutters Mutter“ durch eine bestimmte Handhaltung hinter dem Rücken, „Ehemann“ durch eine Handbewegung an der rechten Körperseite, usw.
Das Buch ist reich illustriert: zahlreiche Gesten sind durch Photos von Yolngu-Sprechern belegt, so dass auch der fachfremde Leser einen lebendigen Eindruck dieser Zeichensprache gewinnen kann. Auch dadurch ist das Werk insgesamt sehr gut lesbar. Die Studie stellt nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Spezialforschung zu der betreffenden Sprachgemeinschaft dar, sondern liefert auch Impulse für die linguistische Forschung zu zeichensprachlichen Systemen im weiteren Sinne.
Dafür wird die Arbeit mit dem Offermann-Hergarten-Preis ausgezeichnet.
Bauer, Anastasia, The Use of Signing Space in a Shared Sign Language of Australia, Berlin: De Gruyter Mouton 2014.
Dr.'in Christian Blum
Die Bestimmung des Gemeinwohls
Christian Blum – unser zweiter Preisträger – beschäftigt sich in seiner philosophischen Dissertation Die Bestimmung des Gemeinwohls mit der genauso spannenden wie heiklen Frage, welche Rolle das Gemeinwohl in Demokratien eigentlich spielen darf.
Politiker berufen sich zur Rechtfertigung ihres Handelns ständig auf dieses Gemeinwohl. Aber die Erinnerung an den inflationären Gebrauch dieses Begriffs z.B. in der Nazi-Zeit (Gemeinnutz geht vor Eigennutz etc.) lässt zumindest einige Zweifel daran aufkommen, ob und inwieweit diese Praxis demokratietauglich ist.
Blum präpariert das zugrunde liegende Problem messerscharf heraus: Damit die Berufung auf das Gemeinwohl für Demokratien akzeptabel ist, kann eigentlich nur das als Gemeinwohl gelten, was im Rahmen der demokratischen Willensbildung dafür gehalten wird. Genau diese Prozeduralisierung scheint den objektiven Kern des Gemeinwohls jedoch auszuhöhlen. Um das skizzierte Dilemma aufzulösen, entwickelt Blum völlig eigenständig die von ihm so genannte „integrative Gemeinwohltheorie“ - eine Theorie, die objektive Rahmenbedingungen mit der demokratischen Willensbildung überzeugend versöhnt. Blum belässt es nicht bei dieser abstrakten Problemlösung, sondern entwickelt einen differenzierten und anwendungsbezogenen Kriterienkatalog des Gemeinwohls. Diese Katalog erprobt er an der Bewertung von zwei aktuellen politischen Entscheidungsprozessen: dem Dresdener Brückenstreit und dem Problem der nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung für Straftäter.
Blums Arbeit ist eine in jeder Hinsicht gelungene philosophische Studie. Sie bietet eine gleichermaßen originelle wie substanzielle Lösung für ein zu Unrecht vernachlässigtes Thema der politischen Philosophie. Zugleich wartet sie mit konkreten Vorschlägen für die politische Praxis auf. Sie besticht durch ihren stringenten Argumentationsgang, aber auch durch große Klarheit und einen völlig schnörkellosen Stil. Die Lektüre ist auch für den Laien ein intellektueller Hochgenuss – und auch dies ist ein Grund, sie mit dem Preis der Offermann-Hergarten-Stiftung auszuzeichnen.
Blum, Christian, Die Bestimmung des Gemeinwohls, Berlin: De Gruyter 2015.
Dr. Stefan Niklas
Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung
Stefan Niklas befasst sich mit einem alltagskulturellen Phänomen, das Sie alle kennen, ganz gleich, ob Sie es selbst begeistert praktizieren, ob Sie es gleichgültig zur Kenntnis nehmen oder ob Sie davon furchtbar genervt werden. Es geht um das „Kopfhören“, also den Musikgenuss in der Öffentlichkeit per Kopfhörer und walkman, mp3-Player oder smartphone. Studiert wird der Sozialtypus der Kopfhörerin und das mobile Musikhören als ästhetische Erfahrung – so der Titel und Untertitel seiner Arbeit.
Das mit dem «Walkman» aufgekommene mobile Musikhören im öffentlichen Raum wird gerne als Akt der Abschottung von der Umwelt gedeutet. Diesem kulturkritischen Verdikt tritt Stefan Niklas in seiner philosophischen Dissertation entgegen. Seine These lautet, dass die Fortbewegung mit aufgesetzten Kopfhörern auch neue Wege ästhetischer Erfahrung erschließt. Ausgehend von der ästhetischen Theorie des Pragmatismus und einer akteurzentrierten Kultursoziologie legt er dar, wie die prototypische Figur der ‹Kopfhörerin› im öffentlichen Nah- und Fernverkehr Alltagssituationen auditiv transzendiert — etwa indem sie sich in der Straßenbahn eine eigene Atmosphäre schafft oder im Intercity die filmartig vorbeiziehende Landschaft mit einer individuellen Tonspur versieht. In beiden Fällen, so das Ergebnis, führt das Kopfhören zu einer synästhetischen Verknüpfung von Sinneseindrücken auditiver, visueller und anderer Art.
Die elegant formulierte Analyse der neuen Erfahrungsmöglichkeiten, die die scheinbar triviale Situation des Musikhörens per Kopfhörer eröffnet, bietet Herrn Niklas die Gelegenheit zur grundsätzlichen Erörterung theoretischer und begrifflicher Probleme „ästhetischer Erfahrung“, aber auch zu gegenstands- und praxisnahmen Reflexionen zum Erfahrungswandel unter den Bedingungen (post)moderner Individualisierung. Seine Arbeit leistet damit sowohl einen Beitrag zur philosophischen Theorieentwicklung als auch zur kulturwissenschaftlichen Analyse neuer Medienpraktiken, deren Bedeutung über den konkreten Gegenstand des „Kopfhörens“ deutlich hinausweist.
Niklas, Stefan, Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014.
Dr.'in Sonja Riesberg
Symmetrical Voice and Linking in Western Austronesian Languages
Mit der Studie von Sonja Riesberg steht eine zweite linguistische Arbeit zur Auszeichnung an. Diese befasst sich allerdings nicht mit einer Gebärdensprache, sondern mit gesprochenen und geschriebenen Sprachen. Frau Riesberg untersucht in ihrer sprachwissenschaftlichen Dissertation Symmetrical voice and linking in Western Austronesian languages die Diathesesysteme von vier west-austronesischen Sprachen (Totoli, Balinesisch, Indonesisch, Tagalog). Mit „Diathese“ bezeichnen die Experten eine sprachliche Kategorie, die v.a. die Unterscheidung zwischen Aktiv und Passiv betrifft und damit die Möglichkeit, ein- und denselben Sachverhalt aus unterschiedlicher Sicht und in unterschiedlicher sprachlicher Struktur auszudrücken.
Die Arbeit belegt nun, dass in diesen Sprachen Aktiv und Passiv gleichermaßen markierte Konstruktionen darstellen und ihnen insofern „symmetrische Diathesesysteme“ zugrunde liegen. Von den meisten anderen Sprachen der Welt unterscheiden sie sich in dieser Hinsicht grundlegend.
Die Monographie leistet einmal einen sehr wichtigen Beitrag zu unserem Verständnis der genannten westaustronesischen Sprachen. Zum anderen liefert sie aber auch originelle Beiträge zu einigen Kernfragen von Typologie und Sprachtheorie, insbesondere was die Frage nach der Beziehung zwischen den an einem Verbalereignis beteiligten Sprechern und deren sprachlicher Realisierung betrifft. Auf der Grundlage einer umfangreichen empirischen Studie arbeitet Riesberg in sehr präziser und anschaulicher Weise die fundamentale Relevanz und die grundsätzlichen Probleme heraus, die westaustronesische Sprachen für verschiedene Grammatiktheorien darstellen. Schließlich bietet sie einen eigenständigen, sehr innovativen Lösungsvorschlag für diese sprachtheoretischen Probleme an.
Ihr Ansatz erfasst dabei nicht nur die Besonderheiten der symmetrischen westaustronesischen Sprachen, sondern auch die von nicht-symmetrischen Sprachen wie etwa dem Deutschen und trägt so zu einer klaren Verbesserung bestehender theoretischer Ansätze bei.
Riesberg, Sonja, Symmetrical Voice and Linking in Western Austronesian Languages, Berlin: De Gruyter Mouton 2014.
Dr.'in Stefanie Seeberg
Textile Bildwerke im Kirchenraum. Leinenstickereien im Kontext mittelalterlicher Raumausstattung aus dem Prämonstratenserinnenkloster Altenberg/Lahn
Die letzte heute auszuzeichnende Arbeit stammt aus der Kunstgeschichte. Und wie es sich für eine preiswürdige Forschungsarbeit gehört, befasst sie sich mit einem Gegenstand und einem Thema, über das wir bisher noch nicht viel wissen, über dass wir aber nach der Lektüre bestens unterrichtet sind.
In ihrer materialreichen Habilitationsschrift widmet sich Dr. Stefanie Seeberg nämlich einem bislang von der Forschung weitgehend vernachlässigten Gegenstand: Den textilen Bildwerken, die man in mittelalterlichen Kirchenräumen fand (findet). Es geht um Leinenstickereien, die zur Raumausstattung und Raumgestaltung genutzt wurden. Dies erforscht Frau Seeberg am Beispiel der Ausgestaltung des Prämonstratenserinnenklosters in Altenberg an der Lahn bei Gießen.
Im Zentrum der Abhandlung steht ein ungewöhnlich gut dokumentiertes und erhaltenes Ensemble von farbigen Leinenteppichen aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Neben naturwissenschaftlichen Analysen hinsichtlich ihrer Farbigkeit und Webtechnik werden diese Bilder auch im baulichen Kontext der Kirche unter verschiedenen Fragestellungen untersucht. Es geht um ihre Ikonographie, um die liturgische Einbindung, die performative Dimension und auch um ihr Verhältnis zu anderen Bildmedien. Frau Seeberg gelingen vielfältige, in diesem Zusammenhang sehr innovative Einblicke in das mediale Zusammenspiels von Bildern in Kirchenräumen, sowohl im Hinblick auf ihre Konzeption wie ihre Rezeption.
Insgesamt bietet die Untersuchung damit auch neue Erkenntnisse zu breiteren Themenfeldern der aktuellen kulturhistorischen Forschung wie Patronat und Memoria, Medialität und Materialität sowie auch allgemein zur Erforschung der mittelalterlichen Frauenklöster. - Durch seine klare Sprache, die reiche Bebilderung und das hervorragende Layout ist das Werk auch für den fachfremden Leser und Laien sehr gut lesbar. Es handelt sich also nicht nur inhaltlich, sondern auch der Form nach um eine herausragende und daher preiswürdige Arbeit.
Seeberg, Stefanie, Textile Bildwerke im Kirchenraum. Leinenstickereien im Kontext mittelalterlicher Raumausstattungen aus dem Prämonstratenserinnenkloster Altenberg/Lahn, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014.
Preisträger*innen 2014
Dr. Volker Barth
Inkognito. Geschichte eines Zeremoniells
Versucht heute ein Prominenter, sich „inkognito“ zu bewegen, will er durch Verschleierung seiner wahren Identität der öffentlichen Aufmerksamkeit entkommen. Bis weit ins 19. Jahrhundert war dagegen allen Beteiligten die wahre Identität eines „inkognito“ reisenden Fürsten bekannt. Allerdings taten sie so, als wüssten sie es nicht. So musste sich der Fürst nicht wie ein Fürst verhalten und die Untertanen konnten auf die Einhaltung der standesgemäßen Rituale des Vorranges und der Huldigung verzichten. Die berühmte Europareise des russischen Zaren Peter des Großen (Sie erinnern sich: „Zar und Zimmermann“) an der Wende zum 18. Jahrhundert war stilbildend. Erst der gespielte Übertritt in eine Scheinidentität gestattete es den regierenden Fürsten, den bis ins Unendliche verfeinerten Regularien der Rangordnung und der symbolischen Inszenierung ihrer Herrscherrolle auf Zeit zu entkommen. Manchmal ermöglichte erst dieses Mimikry politische und diplomatische Kommunikation, die sonst im Gestrüpp der Rangkonkurrenz hängengeblieben wäre. Die Geschichte des Inkognito führt mitten ins Zentrum symbolischer Kommunikation, die so essentiell für die Legitimation politischer Herrschaft in der Vormoderne war.
Volker Barths Studie „Inkognito. Geschichte eines Zeremoniells“ - vom Mittelalter bis ins frühe 20. Jahrhundert - zeichnet sich durch eine originelle Themenwahl aus, über die ein ganzes Bündel symbolischer Praktiken zur Inszenierung monarchischer Herrschaft erschlossen wird. Sie ist zeitlich und räumlich weit gespannt und liefert einen anschaulichen und doch differenzierten Zugang zu Grundproblemen der europäischen Geschichte der Vormoderne. Obwohl sie dicht an den Quellen arbeitet, verfolgt die Studie eine begrifflich reflektierte analytische Perspektive. Und schließlich ist hervorzuheben, dass Volker Barth nicht nur ein sehr lesenswertes, sondern auch ein höchst lesbares Buch geschrieben hat, das sich durch klare Sprache, überzeugende Argumente und eine plastische Darstellung auszeichnet.
Dr. Christian Berrenberg
»Es ist deine Pflicht zu benutzen, was du weißt!« Literatur und literarische Praktiken in der norwegischen Arbeiterbewegung 1900-1931
Christian Berrenberg präsentiert in seiner skandinavistischen Dissertation Es ist Pflicht zu benutzen, was Du weißt! Literarische Praktiken in der norwegischen Arbeiterbewegung 1900-1930 die erste umfassende Studie zur norwegischen Arbeiterliteratur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. In den Literaturgeschichten ist die norwegische Arbeiterliteratur dieser Zeit bislang ein weitgehend blinder Fleck geblieben, weil, wie Berrenberg überzeugend nachweist, ein zu enger literaturwissenschaftlicher Literaturbegriff zugrunde gelegt wurde. Untersucht man dagegen, wie Berrenberg, im Rahmen eines praxeologischen Ansatzes die literarischen Praktiken der Arbeiterschaft in ihrer ganzen Fülle, eröffnet sich ein wahrer Kosmos von höchst unterschiedlichen literarischen Aktivitäten. Der erste Teil der Arbeit bietet ein höchst aufschlussreiches Panorama auf die in der Arbeiterbewegung geführte Debatte über Sinn und Form der Arbeiterliteratur. Im zweiten Teil sichtet Berrenberg sehr phänomennah die konkreten literarischen Praktiken der Rezeption, Produktion und Aufführung von Texten in der norwegischen Arbeiterschaft dieser Zeit. Ein besonderer Leckerbissen ist dabei die erstmalige wissenschaftliche Erschließung der handgeschriebenen Zeitungen – ein so nur in Norwegen verbreitetes Medium zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, das eine besondere Form von demokratischer Öffentlichkeit herstellte. Berrenbergs Studie lässt den Leser die norwegische Arbeiterliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts mit völlig neuen Augen sehen und ist auch für skandinavistische Laien zugänglich, weil die Quellen auch in deutscher Übersetzung vorlegt werden.
Dr. Maria Imhof
Schneller als der Schein. Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik
Maria Imhof untersucht in ihrer romanistischen Dissertation Schneller als der Schein. Theatralität und Beschleunigung in der spanischen Romantik die These, dass eine heute vieldiskutierte soziale Beschleunigungserfahrung und Zeitverknappung bereits im romantischen Theater zentral ist. Die Arbeit zeichnet dabei eine im 19. Jahrhundert beginnende Entwicklung nach und stellt sie in den Kontext einer durch die Industrialisierung geprägten Welt. Imhof legt eine ausgezeichnet recherchierte und ebenso theorie- wie materialgesättigte Studie vor, die vor allem durch ihre differenzierte Auseinandersetzung mit den relevanten Diskursen wie auch durch ihre differenzierte Einsicht in die theatralen Inszenierungs- und Rezeptionsmodi der spanischen Romantik überzeugt. Aufgrund des innovativen Gegenstands in Verbindung mit einer wohltuenden Klarheit und Präzision in der Darstellung präsentiert die Arbeit eine überaus fruchtbare Verquickung von Theater- und Medienkulturwissenschaft – und dies nicht nur auf der theoretisch-abstrakten, sondern ebenso auf einer objektbezogenen analytischen Ebene.
Dr. Christiane Krusenbaum-Verheugen
Figuren der Referenz. Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der ,Gottesfreundliteratur‘ in der Straßburger Johanniterkomturei zum ,Grünen Wörth‘
In ihrer umfangreichen mediävistischen Dissertation Figuren der Referenz. Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der ‚Gottesfreundliteratur‘ in der Straßburger Johanniterkomturei zum ‚Grünen Wörth‘ untersucht Christiane Krusenbaum-Verheugen ein Konvolut von 23 Texten, die in verschiedenen Handschriften vor allem der Straßburger Johanniterkomturei überliefert sind. Die Dissertation leistet Grundlagenarbeit, indem sie das Textcorpus der Gottesfreundliteratur (entstanden zwischen 1352 und 1402) akribisch, auch in seiner äußeren Gestalt beschreibt. Der Studie geht es nicht um autorzentrierte Fragestellungen, wie sie die bisherige Forschung dominiert haben, entwickelt wird eine innovative Problemstellung, bei der die Konzepte von Autorschaft, Original und Authentizität im untersuchten Corpus in den Fokus genommen werden. Überzeugend gelingt es der Arbeit, den literarischen und institutionsgeschichtlichen Kontext der Gottesfreundliteratur zu rekonstruieren. Krusenbaum-Verheugens Monografie ermöglicht einen überaus erhellenden Blick auf die diskursiven, die epistemischen und die materiell-medialen Grundlagen der von ihr analysierten Texte und damit auch der Schreibpraktiken des ‚Grünen Wörth’.
Dr. Leopoldo Siano
Karlheinz Stockhausens letzter Kompositionszyklus Klang. Die 24 Stunden des Tages
Leopoldo Sianos Dissertation Karlheinz Stockhausens letzter Kompositionszyklus "KLANG. Die 24 Stunden des Tages" – nur 5 Jahre nach dem Todesjahr des Komponisten fertiggestellt – ist die erste umfassende Veröffentlichung über Stockhausens unvollendeten Werkzyklus. Siano analysiert nicht nur die Partituren, sondern vertieft sich in das Studium der Werkskizzen und vieler weiterer, auch biographischer Dokumente, die hier erstmalig einem breiteren Publikum reich bebildert präsentiert werden. Seine Analyse des Werkzyklus befördert viel Aufschlussreiches über dieses umstrittene, als "anomal" bezeichnete Werk zu Tage und dient als "Linse" für eine weitere ästhetische Reflexion der im gesamten Œvre benutzten kompositorischen Strategien. Auf diese Weise entsteht ein beeindruckendes Gesamtbild des Werkes und der Persönlichkeit des Komponisten.
Siano präsentiert sich mit seiner Dissertation als profunder Kenner zeitgenössischer Musik. Seine Vorgehensweise ist werkanalytisch akribisch, zugleich theoretisch versiert und interdisziplinär breit angelegt. Nicht zuletzt sind es seine eleganten, gut pointierten Formulierungen, die die Lektüre des Buches zum intellektuellen Genuss machen.
Jun.-Prof. Dr. Thomas Wortmann
Literatur als Prozess. Drostes »Geistliches Jahr« als Schreibzyklus
Der Leitgedanke der französischen critique génétique, den literarischen Text nicht als ab-geschlossenes Werk, sondern als Moment in einem unabschließbaren Schreibprozess zu betrachten, ist in erster Linie an Autoren der klassischen Moderne wie Proust oder Kafka entwickelt worden. Dass er auch Texte des 19. Jahrhunderts neu zu erschließen erlaubt, zeigt Thomas Wortmann in seiner Dissertation über den unvollendeten Gedichtzyklus Das geistliche Jahr von Annette von Droste-Hülshoff. In dieser immer wieder überarbeiteten Sammlung geistlicher Lieder, so seine These, greift die katholische Autorin zwar auf alte Form- und Gattungsmuster zurück, aber nur, um die dadurch suggerierte vormoderne Ordnung von innen heraus zu «zerschreiben». Mit seiner glasklar aufgebauten und elegant formulierten Arbeit liefert Thomas Wortmann einen bedeutenden Beitrag zur Droste-Forschung. Den dort lange dominierenden Biographismus und Konservatismus weist er schlüssig zurück, indem er an ausgewählten Gedichten aus Das geistliche Jahr im Rückgriff auf die schwer entzifferbaren Manuskripte kleine Retuschen von großer Tragweite sichtbar macht.
Preisträger*innen 2013
Dr. Sarah Buschfeld
English in Cyprus or Cyprus English. An empirical investigation of variety status
Durch ihre weltweite Verbreitung hat die englische Sprache zahlreiche Varietäten entwickelt, die unter dem Sammelbegriff World Englishes erst seit kurzem im Fokus des Forschungsinteresses stehen. Die anglistische Dissertation von Sarah Buschfeld English in Cyprus or Cyprus English liefert die erste umfassende Darstellung einer Varietät des Englischen, die in der Folge der britischen Administration im griechischen Teil von Zypern gesprochen wird. Bereits die erstmalige, methodisch hervorragend fundierte und facettenreiche Dokumentation dieser Varietät des Englischen ist ein wichtiger Forschungsbeitrag.
Die weiterführende Frage, ob es sich bei dieser neuen Sprachausprägung um eine Lernervarietät oder eine Zweitsprache handelt, bewältigt Sarah Buschfeld vor dem Hintergrund einer integrativen, disziplinenübegreifenden, dynamischen Theorie damit, dass sie die strikte Dichotomie zwischen Lerner- und Zweitsprachenstatus aufbricht u nd die spezifischen, hybriden Merkmale des Englischen in Zypern herausarbeitet, um auf diesem Weg bestehende Modelle zur Beschreibung der World Englishes kritisch zu hinterfragen und zu modifizieren.
Dr. Jörn Lang
Mit Wissen geschmückt? Zur bildlichen Rezeption griechischer Dichter und Denker in der römischen Lebenswelt
Jörn Lang unternimmt in seiner umfangreichen Dissertation Mit Wissen geschmückt? Zur bildlichen Rezeption griechischer Dichter und Denker in der römischen Lebenswelt erstmals den Versuch, den Bestand der Rezeptionsmedien zum Diskursfeld griechischer Bildung innerhalb der römischen Lebenswelt systematisch zusammenzustellen. Ausgehend von der These, wonach das Verhältnis zwischen griechischer Bildung und römischer Lebenswelt bislang vordringlich aus literarischen Quellen rekonstruiert wurde, kann dieses Verhältnis durch die Berücksichtigung eines ganz anderen Bereiches der römischen Alltagskultur, nämlich u.a. Gemmen, Tongeschirr und Öllampen, nun auf eine sehr viel breitere argumentative Grundlage gestellt werden. In einer gattungs¬übergreifenden Analyse wird diese bislang kaum beachtete Materialgruppe vor allem auf ihre Qualitäten als Ausdrucksmöglichkeit von Vorstellungen griechischer Bildung untersucht. Aus diesen Gründen ist Langs Untersuchung sowohl inhaltlich wie auch methodisch als ein Grundlagenwerk moderner archäologischer Forschung anzusehen. Weiterhin überzeugend ist die Arbeit zudem durch ihre Klarheit, Präzision und Verständlichkeit in der Darstellung, da sie auch dem fachfremden Leser stets den Nachvollzug der Positionen und Argumentationen ermöglicht.
PD Dr. Maren Möhring
Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland
Wie kaum ein anderes Alltagsobjekt können Nahrungsmittel zum Inbegriff einer nationalen Kultur stilisiert werden. Welche Vorstellungen des „Eigenen“ und des „Anderen“ verbinden sich mit Pizza, Döner oder Gyros? Wie wirkten Einwanderer und Einheimische nach 1945 bei der gastronomischen Erfindung „des Italienischen“, „des Türkischen“ oder „des Griechischen“ zusammen? Antworten auf diese Fragen gibt Maren Möring in ihrer zeithistorischen Habilitationsschrift Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist ein exzellent recherchiertes, begrifflich klares, spannendes und manchmal auch amüsant zu lesendes Buch. Frau Möhring legt eine Pionierstudie vor, die neue Maßstäbe für die konsum- und migrationshistorische Forschung definiert. Auf einer sehr breiten und vielfältigen Quellenbasis liefert sie eine methodenbewusste, theoretisch inspirierte und dennoch sehr gegenstandsnahe und plastische Untersuchung. Sie leistet einen innovativen Beitrag zur Geschichte der Bundesrepublik, aber auch zur Geschichte der Globalisierung oder besser: der „Glokalisierung von unten“, wie sie an einer Stelle schreibt. Mit ihrer originellen Gegenstandswahl gelingt es Maren Möhring, die jüngere deutsche Geschichte mit der Geschichte der Auswanderungsländer, die Geschichte des Essens mit jener von Identitätsbildung und „Ethnisierung“, die Konsumgeschichte mit postkolonialen Perspektiven zu verbinden. Wer ihr Buch gelesen hat, geht mit anderen Augen in die Pizzeria.
(Wir wünschen guten Appetit und gratulieren Maren Möhring zum Offermann-Hergarten Preis.)
Dr. Alexander Reutlinger
A Theory of Causation in the Social and Biological Sciences
Alexander Reutlinger präsentiert in seiner wissenschaftsphilosophischen Dissertation A Theory of Causation in the Social and Biological Sciences, die erst kürzlich im renommierten Verlagshaus Palgrave Macmillan erschienen ist, eine neue Analyse des Kausalbegriffs, die insbesondere der Praxis der sogenannten Spezialwissenschaften Rechnung tragen soll. In diesen Wissenschaften, wie etwa den Sozialwissenschaften oder der Biologie, gelten nicht-universelle Gesetze, die Ausnahmen kennen und damit für die Analyse des Kausalbegriffs ganz besondere Probleme aufwerfen. Reutlinger seziert im kritischen Teil seiner Arbeit messerscharf die Schwachstellen der gegenwärtig dominierenden interventionistischen Theorie der Kausalität, wie sie etwa von James Woodward vertreten wird, und entwickelt diesen Ansatz sodann konstruktiv und radikal zu einem höchst originellen und wegweisenden eigenen Vorschlag weiter, der mit Sicherheit nachhaltigen Einfluss auf die gegenwärtige wissenschaftstheoretische Debatte nehmen wird. Die Arbeit verbindet auf beeindruckende Weise philosophische Grundlagenarbeit mit empirisch gesättigtem interdisziplinärem Anwendungsbezug. Sie ist mit großer, teilweise technischer Sorgfalt im Detail geschrieben und bleibt dennoch auf jeder Seite vorbildlich klar und verständlich.
Dr. Román Setton
Los orígenes de la narrativa policial en la Argentina: Recepción y transformación de modelos genéricos alemanes, franceses e ingleses
Román Setton bietet mit seiner Arbeit Los orígenes de la narrativa policial en la Argentina - Recepción y transformación de modelos genéricos alemanes, franceses e ingleses eine tiefgehende und weitreichende literaturgeschichtliche Untersuchung der Kriminalliteratur mit Bezug auf die frühen Entwicklungen dieses literarischen Genres in Argentinien. Die Arbeit behandelt die Entwicklung der argentinischen Literatur immer mit Blick auf die sich wandelnde politische und soziale Umgebung – dabei weit über das Genre der Kriminalliteratur hinausgehend –, wobei soziale und historische Bedingungen deutlich als Grundvoraussetzungen für das Entstehen neuer Literaturgenres identifiziert werden. Qualität und Innovativität dieses Werkes werden durch eine äußerst starke komparative Komponente unterstrichen. Settons Arbeit ist in der Tat eine auf breiter romanistischer Grundlage basierende vergleichende Literaturstudie, die auch anglistische und germanistische Aspekte in höchst informierter Weise mit einbezieht und so als Ergebnis die frühe argentinische Kriminalliteratur des 19. Jahrhunderts als im Dialog mit europäischen Vorbildern entstandene Gattung definiert.
Preisträger*innen 2012
Dr. Sidonia Bauer
La poésie vécue d`André Velter
Dr. Stefanie Coché
Psychiatrie und Gesellschaft. Psychiatrische Einweisungspraxis im »Dritten Reich«, in der DDR und der Bundesrepublik 1941-1963
Dr. Marcel Danner
Wohnkultur im spätantiken Ostia
Dr. Michael Homberg
Reporter-Streifzüge. Metropolitane Nachrichtenkultur und die Wahrnehmung der Welt 1870-1918
Dr. Kristoff Kerl
Männlichkeit und moderner Antisemitismus. Eine Genealogie des Leo Frank-Case, 1860er-1920er Jahre
Dr. Antje Arnold
Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert
Antje Arnold wendet sich in ihrer Dissertation Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert gegen die Auffassung der Empfindsamkeit als historischer Epoche einer angeblichen ‚antirhetorischen Wende’. Natürlichkeit als unrhetorische Natürlichkeit, so weist sie anhand akribischer Lektüren von Texten nach, die nicht ausschließlich zum allseits bekannten Höhenkamm zählen, ist tatsächlich der Effekt einer rhetorischen Inszenierung. Im Zentrum der Arbeit steht ein doppelter Begriff der ‚Mitte’, in dem ein nach Horaz gleichermaßen erfreuendes und belehrendes mittleres genus dicendi mit Aristoteles’ mesótes-Ideal als dem Ziel „der rechten Mitte“ verknüpft wird. Methodologisch hochreflektiert und ausgesprochen scharfsinnig verortet sich die Arbeit in einer Reihe unterschiedlicher Forschungsfelder. Zu nennen sind hier vor allem die neue germanistische Emotionsforschung, die Empfindsamkeits- wie Geschlechterforschung sowie die Rhetorikforschung und -theorie. Dabei konzentriert sich die Studie zwar auf das 17. und 18. Jahrhundert, liefert aber auch wichtige systematische Einsichten.
Dr. Erich Claßen
Siedlungen der Bandkeramik bei Königshoven
In seiner von Jürgen Richter betreuten Dissertation Siedlungen der Bandkeramik bei Königshoven beschäftigt sich Erich Claßen mit der Geschichte einiger in das 6. Jahrtausend zu datierender bandkeramischer Siedlungen im Bereich Königshoven westlich von Köln. Es werden systematisch alle Grabungen ausgewertet, die Befunde mustergültig vorgelegt und schließlich weitreichende Analysen zur Siedlungsgeschichte, Landschaftsnutzung und Wirtschaftsweise dieser ersten sesshaften Bauernkultur im Rheinland durchgeführt. Auf diese Weise entsteht eine umfassende, perspektivreiche Darstellung der untersuchten lokalen Kulturregionen. Methodisch neue Aspekte bietet die Arbeit durch eine aufwendige Netzwerkanalyse zur Untersuchung der Außenbeziehungen der rheinländischen Siedlungen. So verbindet sie in vorbildlicher Weise eine akribische, facettenreiche, durch innovative Methoden gestützte Datenbeschreibung mit einer überzeugenden systematischen Interpretation.
Dr. Jens Kipper
A Two-Dimensionalist Guide to Conceptual Analysis
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Begriffsanalyse als philosophischer Königsweg zum Verständnis der Natur der Dinge zunehmend in Verruf geraten. Je mehr man erkannte, wie stark die Bedeutung unserer Begriffe von unserer jeweiligen Sprachgemeinschaft und unserer Umwelt abhängt, umso fragwürdiger wurde die althergebrachte Idee, dass ein Sprecher ein privilegiertes Wissen von der Bedeutung seiner Begriffe haben kann. In seiner von Thomas Grundmann betreuten Dissertation A Two-Dimensionalist Guide to Conceptual Analysis zeigt Jens Kipper mit Hilfe einer sehr umsichtig und stringent geführten Argumentation, dass sich unser privilegiertes Wissen von der Bedeutung unserer Begriffe zumindest für eine semantische Dimension verteidigen lässt. Damit vertritt Herr Kipper eine epistemische zwei-dimensionale Semantik und entwickelt eine eigene Variante dieser Position. Im zweiten Teil seiner glasklaren und vorzüglich geschriebenen Arbeit werden dann die Konsequenzen dieses semantischen Neuansatzes für die Tragfähigkeit und die Anwendbarkeit der Begriffsanalyse als Methode der Philosophie eindrucksvoll entfaltet und die Begriffsanalyse als philosophische Methode par excellence ein gutes Stück weit rehabilitiert.
Dr. Michael Löffelsender
Strafjustiz an der Heimatfront. Die strafrechtliche Verfolgung von Frauen und Jugendlichen im Oberlandesgerichtsbezirk Köln 1939-1945
Michael Löffelsenderanalysiert in seiner umfangreichen Dissertation Strafjustiz an der Heimatfront die strafrechtliche Verfolgung von Jugendlichen und Frauen während des zweiten Weltkrieges im nationalsozialistischen Deutschland. Er argumentiert, dass sich bereits seit 1933 eine deutliche Indienstnahme von Justiz und Strafrecht im Kontext von Krieg, Mobilisierung und „innerer Front“ und im Namen der Bekämpfung von gesellschaftlicher Erosion, Abtreibung und Arbeitskriminalität erkennen lässt. Diese Instrumentalisierung von Justiz und Strafrecht, so Herr Löffelsender, wurde erstens stark beeinflusst durch Entscheidungen individueller Akteure (Staatsanwälte). Zweitens wurde sie eingerahmt durch eine Rechtsprechung, die durch die Bedingung des Krieges und die damit verbundenen Ansprüche an den Zusammenhalt und das erforderliche normierte Verhalten der „Volksgemeinschaft“ gerechtfertigt wurde. Herr Löffelsender behandelt sehr detailgenau ein hochinteressantes Thema, welches das jüngste Interesse an der Ideologie und wirklichen Beschaffenheit der „Volksgemeinschaft“ reflektiert und eine bestehende Lücke in der Geschichte alltäglicher Justiz im Dritten Reiches schließt. Darüber hinaus gelingt es ihm, durch die Herstellung eines Zusammenhanges zwischen Mobilisierung, Normvorstellung, Strafjustiz, Geschlechter- und Jugendgeschichte einen zentralen Beitrag zur Geschichte von Normierung, Normenvorstellung und v.a. Normendurchsetzung in Gesellschaften im „Ausnahmezustand“ zu leisten.
Dr. Anna Pawlak
Trilogie der Gottessuche. Pieter Bruegels d. Ä. Sturz der gefallenen Engel, Triumph des Todes und Dulle Griet.
Anna Pawlak arbeitet in ihrer luziden Dissertation Trilogie der Gottessuche. Pieter Bruegels d. Ä. Sturz der gefallenen Engel, Triumph des Todes und Dulle Griet den inneren Zusammenhang dieser zentralen Werke Bruegels heraus, die bisher allein wegen ihres übereinstimmenden Formats als Trilogie bezeichnet wurden. Ihre differenzierten Bildanalysen erschließen Bruegels Motiv- und Bildzitate. Pawlak interpretiert deren Umdeutung, Neukontextualisierung und Montage im Hinblick auf die theologisch-philosophischen Probleme der Selbst- und Sündenerkenntnis, die in ihnen verhandelt werden – als bildimplizite Theologia moralis. Zugleich erschließt sie die Rätselhaftigkeit und Ambiguität der paradoxen, zirkulären Bildstrukturen Bruegels als künstlerische Antwort auf die zeitgenössisch virulente Frage nach dem Status der Bilder, erschließt sie als selbstreflexive religiöse Denkbilder. Die Arbeit verbindet in idealer Weise die nach Bildinhalt und -bedeutung fragende Ikonologie mit aktuellen bild- und kunsttheoretischen Ansätzen. Stringente Werkanalysen, klare Argumentation und geschliffene klare Sprache machen die Lektüre dieser Arbeit zu einem Vergnügen auch für fachfremde LeserInnen.
Preisträger*innen 2011
Dr. Marcus Erbe
Klänge schreiben: Die Transkriptionsproblematik elektroakustischer Musik
Das Kernproblem bei der Notation elektroakustischer Musik ist die Unzugänglichkeit der älteren Notenpartituren und das Fehlen eines standardisierten alternativen Verfahrens. Die musikwissenschaftliche Dissertation von Markus Erbe Klänge schreiben: Die Transkriptionsproblematik elektroakustischer Musik verfolgt bei der Lösung dieses Kernproblems einen interdisziplinären Ansatz, in welchem das medien- und kulturwissenschaftliche Transkriptionskonzept Ludwig Jägers mit musikethnologischen Partiturmodellen verknüpft wird. Verschiedenartige, zum Teil durch eigene Quellenstudien der Öffentlichkeit erstmals präsentierte Transkriptionsversuche werden ausgewertet. Auf dieser Grundlage erarbeitet Erbe einen Kriterienkatalog für Transkriptionsverfahren, die er an Modelltranskriptionen erprobt. Die Entwicklung einer Transkriptionssoftware für elektroakustische Musik rundet dieses Vorhaben ab. Damit gelingt es dem Verfasser, in dieser stilistisch reifen, anschaulich illustrierten Arbeit avancierte theoretische Erkenntnisse mit anwendungsorientierten Problemlösungen auf vorzügliche Weise zu vereinen.
Dr. Thomas Jeschke
Deus ut tentus vel visus. Die Debatte um die Seligkeit im reflexiven Akt (ca. 1293–1320)
Thomas Jeschke rekonstruiert in seiner umfangreichen Dissertation Deus ut tentus vel visus. Die Debatte um die Seligkeit im reflexiven Akt (ca. 1293-1320) die in diesem Zeitraum wichtige philosophisch-theologische Debatte über die Frage, ob der Mensch nach dem Tod allein durch die intuitive Schau Gottes vollkommene Seligkeit erlangen kann oder ob er sich dazu seiner eigenen Seligkeit reflexiv bewusst werden müsse. Jeschke rekonstruiert erstmals den ganzen Kontext der Debatte in seiner hohen Binnendifferenziertheit und erschließt zugleich editorisch zehn in diesem Zusammenhang wichtige Texte. Er wendet die Konstellationenforschung auf diesen Kontext erstmals an und leistet einen wichtigen und außerordentlich materialreichen Beitrag zu dieser Forschungsrichtung. Die Arbeit ermöglicht durch ihre klare Sprache, Begrifflichkeit und Struktur auch dem fachfremden Leser den Nachvollzug der Positionen und Argumentationen. Sie verbindet vorzüglich die philosophisch-systematische Analyse mit philosophie- und theologiehistorischer Kontextualisierung, Quellenedition mit inhaltlicher Analyse.
Dr. Mark Ludwig
Zurechnungsfähigkeiten. Kriminologie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften
Mark Ludwigs germanistische Dissertation Zurechnungsfähigkeiten. Kriminologie in Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« nimmt den Jahrhundertroman, der als prominentes Beispiel für den enzyklopädischen Roman gilt, in einer Perspektive in den Blick, die nicht bei den üblichen Sujets der Musil-Forschung ansetzt, die von der Auseinandersetzung mit dem Möglichkeitssinn, der Eigenschaftslosigkeit, der Geschwisterliebe und der Frage dominiert wird, inwieweit der Roman die zerfallende KuK-Monarchie diagnostisch erfasst. Ludwig nimmt die enzyklopädische Faktur des Romans ernst und rekonstruiert einen der Wissensbereiche, die in Szene gesetzt werden, die Kriminologie. Bezug genommen wird auf Lombroso, Kretschmer, Bleuler und andere; Musils Text wird souverän in zeitgenössische kriminologische Diskurse eingebettet. Die Studie leistet einerseits – durch die umfangreichen Quellen, die Ludwig ausfindig und mit seiner Arbeit zugänglich macht – Grundlagenarbeit für die weitere Auseinandersetzung mit der Kriminologie in Musils Œuvre, andererseits gelingt es ihr die Moosbrugger-Episode im Genre-Kontext der Fallgeschichte zu verorten und poetologisch fruchtbar zu machen.
Dr. Tanja Mattern
Literatur der Zisterzienserinnen. Edition und Untersuchung einer Wienhäuser Legendenhandschrift
Im Zentrum der mediävistischen Dissertation von Tanja Mattern Literatur der Zisterzienserinnen. Edition und Untersuchung einer Wienhäuser Legendenhandschrift steht eine Ende des 13. Jahrhunderts entstandene volkssprachliche Handschrift aus dem Zisterzienserinnen-Kloster Wienhausen. Im ersten Teil ihrer Arbeit bietet Frau Mattern eine Edition, eine kurze Kommentierung und eine dialektale Analyse dieser bisher unedierten Handschrift. Im Verlauf der sich anschließenden gründlichen und sehr perspektivreichen, germanistisch, historisch und kunsthistorisch ausgerichteten Untersuchungen wird der kulturhistorische Kontext der Handschrift dargestellt. Im Ergebnis entsteht ein einleuchtendes Bild der Literatur der Zisterzienserinnen. Diesem weitgesteckten Untersuchungsgegenstand entspricht die vielfältige Methodenkompetenz der Verfasserin, die von der überzeugenden Beherrschung der Editionstechnik über die philologische Analyse bis hin zur Kenntnis und Funktionalisierung literaturwissenschaftlicher Diskurse und kulturhistorischer Forschungsansätze reicht.
Dr. Massimo Perinelli
Fluchtlinien des Neorealismus. Der organlose Körper der italienischen Nachkriegszeit, 1943–1949
Aus film- und medientheoretischer Warte scheint der "Neorealismus" aus-analysiert zu sein. Dass dieser Eindruck täuscht, zeigt Massimo Perinelli mit seiner beachtlichen romanistischen Dissertation Fluchtlinien des Neorealismus. Er greift auf die Kino-Bücher von Deleuze zurück, um die schal gewordenen Kategorien, mit denen der Neorealismus heute filmhistorisch einsortiert und gedeutet wird, durch brisante Denkfiguren zu ersetzen. Detailreiche Beschreibungen und präzise Analysen diverser Filme zeichnen ein faszinierendes Bild einer Epoche, in der zumindest in der Welt des Films vorübergehend vieles möglich war und die allgemeine Erfahrung des Mangels in eine Fülle an Handlungsoptionen umgedeutet wurde. Die Film- wie geschlechtertheoretisch versierte, aber dennoch stets klar formulierte Arbeit korrigiert damit nicht allein filmwissenschaftliche Urteile, sondern verändert auch und gerade unsere Sicht auf die italienische Nachkriegszeit.
Preisträger*innen 2010
Jens Dreisbach
Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka
In Jens Dreisbachs germanistischer Dissertation Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka wird Kultur in erster Linie als ein Mechanismus der Trieborientierung und also der Disziplinierung des eigenen Ich in den Blick genommen. Mit Rekurs auf Kant, Nietzsche, Freud, Gehlen und Foucault zeigt Dreisbach überzeugend auf, dass nur ein komplexer Mechanismus kultureller Disziplinartechniken die seit Beginn der Neuzeit verbreiteten gesellschaftlichen Aggressionen und Ängste habe bändigen können. Ist so der theoretische Rahmen souverän gespannt, steht im Zentrum der Arbeit die literarische Darstellung und Kritik des modernen Disziplinarregimes in den Texten Gottfried Kellers, Wilhelm Raabes, Hugo von Hofmannsthals, Frank Wedekinds, Robert Walsers und Franz Kafkas. Die präzise und originelle Lektüre der ausgewählten Texte arbeitet stringend argumentierend heraus, wie die Literatur der Moderne eine von Keller bis Walser immer schärfere Kritik der Disziplin entwickelt.
Birgit Gehlen
Innovationen und Netzwerke. Das Spätmesolithikum vom Forggensee (Südbayern) im Kontext des ausgehenden Mesolithikums und des Altneolithikums in der Südhälfte Europas
Birgit Gehlen beschäftigt sich in ihrer Dissertation im Fach Ur- und Frühgeschichte Innovationen und Netzwerke. Das Spätmesolithikum vom Forggensee im Kontext des ausgehenden Mesolithikums und des Altneolithikums in der Südhälfte Europas mit dem Übergang vom Spät¬mesolithikum zum Frühneolithikum und damit mit dem kulturgeschichtlich zentralen Thema des Epochenwandels. Nach einer Bestandsaufnahme und Beschreibung des Inventars zweier Allgäuer Fundstellen erfolgt ein Vergleich mit den spätmesolithischen Fundstellen im geographischen Umfeld und mit vergleichbaren Inventaren vom Fruchtbaren Halbmond bis nach Mittel- und Westeuropa. Beeindruckend ist die Fülle des ausgebreiteten Materials. Die Artefakte jeder Fundstelle werden detailliert beschrieben, chronologisch eingeordnet und in ihrem chronokulturellen Kontext diskutiert. Die Einzelergebnisse werden zu einer – durch innere wie äußere Konzinnität geprägte – Gesamtschau verdichtet: Die Ausbreitung einer innovativen Methode der Klingenherstellung läßt Traditionsräume und mögliche soziale Gruppen erkennen. Die Rekonstruktion vollzieht sich auf der Grundlage neuer methodischer Ansätze bei der Suche nach der Identität mesolithischer und altneolithischer Gruppen.
Tobias Leibold
Enzyklopädische Anthropologien. Formierungen des Wissens vom Menschen im frühen 19. Jahrhundert bei G. H. Schubert, H. Steffens und G. E. Schulze
In seiner germanistischen Dissertation Enzyklopädische Anthropologien: Formierungen des Wissens vom Menschen im frühen 19. Jahrhundert bei Gotthilf Heinrich Schubert, Henrik Steffens und Gottlob Ernst Schulze nimmt Tobias Leibold mittels eines theoretisch hochwertigen Gefüges das Werk dreier eher unbekannter Denker in den Blick. Indem Leibold diese Werke nicht allein als Zeugnisse einer Wissenschaft vom Menschen liest, sondern nach der spezifischen Formierung dieses Wissens fragt, erschließt er nicht nur interessantes neues Material, sondern trägt auch zur weiteren Erhellung der Schnittstelle von „Kultur und Wissen“ bei. Insgesamt bietet die Arbeit ein faszinierendes, hoch ausdifferenziertes und theoretisch komplex unterfüttertes Panorama einer dynamischen, in ständiger Transformation befindlichen Wissenslandschaft. Sie bildet damit einen Forschungsimpuls, sich mit der verschatteten Welt romantischer Wissenschaft in ihrer Breite neu und anders als bisher auseinanderzusetzen.
Regina Mühlhäuser
Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945
Regina Mühlhäuser geschichtswissenschaftliche Dissertation Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941-1945 beschäftigt sich mit einem schwierigen und lange vernachlässigten oder ignorierten Thema: den sexuellen Aktivitäten deutscher Soldaten im 2. Weltkrieg in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Hierbei wird ein breites Spektrum betrachtet: von einvernehmlichen Beziehungen zwischen deutschen Wehrmachts- und SS-Angehörigen und russischen Frauen, über institutionalisierte und vom Militär gelenkte Formen der Sexualität (Militärbordelle), bis hin zu erpressten Sexualbeziehungen und Vergewaltigungen. Basierend auf der Auswertung von Selbstzeugnissen, Fotos, Akten und Berichten gelingt es der Autorin, das heikle Thema differenziert zu analysieren und behutsam darzustellen. Unter Vermeidung akademischer Trockenheit wie reißerischer Rhetorik, leistet die Arbeit die verdienstvolle Aufarbeitung eines (weiteren) düsteren Kapitels der deutschen Besatzungstruppen und liefert darüber hinaus allgemeine Einblicke in die Problematik von Männlichkeits¬konzeptionen und Sexualität im Krieg.
Hedwig Richter
Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR
Der gesellschaftlich abgeschlossene Raum der Herrnhuter als einer pietistisch freikirchlichen Gemeinschaft mit ihren Wurzeln im 18. Jh. bildete für die Staatssicherheit der DDR von vorneherein ein Problem. Wie der staatliche Geheimdienst die Herausforderung bewältigte, diesen, den staatssozialistischen Zielen sich schon aus Tradition ihrer Ursprünge und Werte verschließenden, Kreis zu überwachen, bildet den Gegen¬stand der geschichtswissenschaftlichen Dissertation von Hedwig Richter Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeinde in der DDR. Auf der Basis archivalisch beeindruckend weiträumig recherchierter und differenziert genutzter Quellen stellt sie erstmals für diese Nischen¬gemeinschaft eines konservativen und zugleich radikalen Christentums mit dezidierter Staatsferne zur DDR vor, wie der staatliche Geheimdienst arbeitete und in welchem Maß er Erfolg hatte bzw. scheiterte. Die Verfasserin nutzte neben dem Schriftzugang auch den persönlichen Kontakt zu den Herrnhutern der Gegenwart und so reflektiert ihr Erkenntnisinteresse, das zunächst vor allem der Erschließung historisch zurückliegender Vorgänge gilt, auch den aktuellen historiographischen Diskursraum. Es gelingt der Verfasserin überzeugend, ihren Lesern eine an sich spröde Materie nahe zu bringen. Das ausgezeichnete Buch ist für die weitere Forschung über die DDR ebenso unverzichtbar als informative Grundlage wie auch als methodisches Vorbild.